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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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ich all diese Begabungen sehe, all diese …», er zuckte leicht mit den Schultern, «… Energie und die Intelligenz und das …»
    «Sagen Sie bloß nicht Potenzial.»
    «Potenzial. Ganz genau. Das Potenzial. Und ich kann beim besten Willen nicht verstehen, wie Sie sich mit diesem beschränkten Leben zufriedengeben können. Diesem Leben, das sich komplett innerhalb eines Fünfmeilenumkreises abspielt und in dem niemand vorkommt, der Sie jemals überrascht oder antreibt oder Ihnen Dinge zeigt, bei denen sich Ihnen der Kopf dreht und die Ihnen schlaflose Nächte bereiten.»
    «Das ist also Ihre Art, mir zu sagen, dass ich etwas viel Lohnenswerteres tun sollte, als Ihre Kartoffeln zu schälen.»
    «Was ich Ihnen sagen will, ist, dass es da draußen eine ganze Welt zu entdecken gibt. Aber ich bin Ihnen auch sehr dankbar, wenn Sie mir vor Ihrem Aufbruch ein paar Kartoffeln schälen.» Er lächelte mich an, und ich konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern.
    «Glauben Sie …», fing ich an, unterbrach mich aber.
    «Sprechen Sie weiter.»
    «Glauben Sie, dass es deshalb schwerer für Sie ist, sich an die … Situation zu gewöhnen? Ich meine, weil Sie all diese Sachen erlebt und getan haben?»
    «Fragen Sie mich damit, ob ich wünschte, all das nicht getan zu haben?»
    «Ich überlege nur, ob es anders einfacher für Sie gewesen wäre. Wenn Sie nicht so aktiv gewesen wären. Jetzt so zu leben, meine ich.»
    «Ich werde nie und nimmer die Dinge bedauern, die ich unternommen habe. Denn an den meisten Tagen, an denen man an so einen Stuhl gefesselt ist, hat man nur einen Ort, an den man gehen kann: seine Erinnerung.» Er lächelte. Es war ein angespanntes Lächeln, das ihn Mühe kostete. «Wenn Sie also wissen wollen, ob ich stattdessen lieber in Erinnerungen an den Blick vom Gemischtwarenladen zur Burg oder an die Geschäfte unten beim Kreisverkehr schwelgen würde, dann lautet die Antwort nein. Mein Leben war ganz in Ordnung, danke der Nachfrage.»
    Ich glitt vom Tisch. Ich war nicht sicher, wie es passiert war, aber es kam mir schon wieder so vor, als wäre ich durch seine Argumentation in die Defensive gedrängt worden. Ich griff nach dem Schneidebrett auf dem Abtropfgestell.
    «Und Lou, es tut mir leid. Das mit den Wetten, meine ich.»
    «Dann ist es ja gut.» Ich drehte mich um und spülte das Brett unter fließendem Wasser ab. «Aber glauben Sie bloß nicht, dass Sie deshalb Ihren Zehner zurückkriegen.»

    Zwei Tage später landete Will mit einer Infektion im Krankenhaus. Sie nannten es eine Vorsichtsmaßnahme, allerdings war es für jedermann offensichtlich, dass er große Schmerzen hatte. Einige Tetraplegiker empfanden so etwas nicht, aber Will, der zwar keine Körpertemperatur spüren konnte, fühlte Schmerzen und Berührungen. Ich besuchte ihn zweimal, brachte ihm Musik und etwas Gutes zu essen. Ich wollte ihm Gesellschaft leisten, doch es kam mir vor, als wäre ich nur im Weg, und mir wurde klar, dass Will im Krankenhaus nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Er sagte mir, ich solle nach Hause gehen und meine Freizeit genießen.
    Ein Jahr zuvor hätte ich diese freien Tage vertrödelt. Ich wäre durch die Geschäfte geschlendert und hätte mich vielleicht mit Patrick zum Mittagessen getroffen. Vermutlich hätte ich mir auch ein paar Nachmittagsserien im Fernsehen angeschaut und womöglich einen halbherzigen Versuch unternommen, mein Kleiderchaos aufzuräumen. Und geschlafen hätte ich auch ziemlich viel.
    Jetzt aber fühlte ich mich merkwürdig unruhig und verloren. Es irritierte mich, nicht früh aufstehen zu müssen und etwas Sinnvolles zu tun zu haben.
    Ich brauchte den halben Vormittag, um darauf zu kommen, dass ich diese Zeit sehr gut nutzen konnte. Dann ging ich zum Recherchieren in die Bibliothek. Ich besuchte jede Website über Tetraplegie, die ich entdeckte, und ich suchte nach Dingen, die wir unternehmen konnten, wenn es Will wieder besser ging. Ich schrieb Listen, fügte zu jedem Eintrag die notwendige Ausrüstung oder andere Punkte hinzu, die wir bedenken mussten.
    Ich stieß auf einige Chatrooms für Menschen mit Rückenmarksverletzungen und stellte fest, dass es Tausende Betroffene wie Will gab – Männer und Frauen, die verborgen in London, Sydney, Vancouver oder auch nur die Straße runter lebten. Manche von ihnen wurden von Freunden und ihrer Familie unterstützt, andere waren herzzerreißend einsam.
    Ich war nicht die einzige Betreuerin, die sich für diese

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