Ein ganzes halbes Jahr
verbringen.»
«Versprechen? Warum?» Ich versuchte unbefangen zu klingen. «Wohin gehen Sie denn?»
«Ich kann … einfach den Gedanken nicht ertragen, dass Sie für alle Ewigkeit nur hier in der Gegend bleiben.» Er schluckte. «Dafür sind Sie zu intelligent. Zu interessant.» Er schaute von mir weg. «Sie haben nur ein einziges Leben. Es ist Ihre Pflicht, so viel wie möglich daraus zu machen.»
«Okay», sagte ich zurückhaltend. «Dann sagen Sie mir, wohin ich gehen soll. Wohin würden Sie denn gehen, wenn Sie könnten?»
«Jetzt im Moment?»
«Ja, jetzt im Moment. Und Kilimandscharo fällt aus. Es muss etwas sein, bei dem ich mir vorstellen kann, selbst hinzufahren.»
Als sich Will entspannte, wirkte er plötzlich wie ein ganz anderer Mensch. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, um seine Augen vertieften sich die Lachfältchen. «Paris. Ich würde mich im Marais vor ein Café setzen, Kaffee trinken und einen Teller warmer Croissants mit Butter und Erdbeermarmelade essen.»
«Marais?»
«Das ist ein kleiner Bezirk mitten in Paris. Lauter Kopfsteinpflasterstraßen und alte Häuser und schwule Männer und orthodoxe Juden und Frauen in einem gewissen Alter, die früher einmal ausgesehen haben wie Brigitte Bardot. Das ist der einzige Ort, an dem man leben kann.»
Ich wandte mich ihm zu und sagte mit gesenkter Stimme: «Wir könnten hinfahren. Wir könnten den Eurostar nehmen. Es wäre ganz einfach. Ich glaube, wir müssten nicht einmal Nathan bitten mitzukommen. Ich war noch nie in Paris. Ich würde gerne einmal hin. Unheimlich gern. Ganz besonders mit jemandem, der sich dort auskennt. Was sagen Sie dazu, Will?»
Ich sah mich schon in diesem Café sitzen. Ich war dort, an diesem Tischchen, bewunderte vielleicht mein neues Paar französischer Schuhe, die ich in einer schicken kleinen Boutique gekauft hatte, oder ich pflückte mit Fingernägeln in pariserischem Rot an einem Gebäckstück herum. Ich schmeckte den Kaffee beinahe, roch den Rauch der Gauloises vom Nachbartisch.
«Nein.»
«Wie bitte?» Ich brauchte einen Moment, um mich von dem Tischchen vor dem Straßencafé loszureißen.
«Nein.»
«Aber Sie haben mir doch gerade erzählt …»
«Sie verstehen es nicht, Clark. Ich will dort nicht hin, wenn ich … in diesem Ding sitzen muss.» Er nickte zu dem Rollstuhl, seine Stimme zitterte. «Ich will als ich in Paris sein, als mein altes Ich. Ich will auf einem Stuhl sitzen und mich zurücklehnen, ich will meine Lieblingskleidung tragen und hübsche Französinnen vorbeigehen sehen, die mir einen Blick zuwerfen, wie sie es bei jedem Mann tun würden, der dort sitzt. Die nicht eilig den Blick abwenden, wenn sie feststellen, dass ich in einem überdimensionierten Kinderwagen hocke.»
«Aber wir könnten es doch versuchen», drängte ich. «Es muss auch nicht …»
«Nein. Nein, das könnten wir nicht. Weil ich nämlich jetzt meine Augen schließen und genau spüren kann, wie es sich anfühlt, mit einer Zigarette zwischen den Fingern in der Rue des Francs Bourgeois zu sitzen, während vor mir ein hohes, gekühltes Glas mit Mandarinensaft steht und ein Stück weiter ein Moped herumknattert. Ich kann mir all das genau vorstellen.»
Er schluckte. «An dem Tag, an dem wir dorthin fahren und ich in diesem verfluchten Gerät sitze, sind all diese Erinnerungen, all diese Empfindungen ausgelöscht, wegradiert von der Anstrengung, mit dem Stuhl hinter den Tisch zu kommen und über die Bordsteine von Paris, und davon, mit den Taxifahrern zu streiten, die uns nicht mitnehmen wollen, und davon, dass das beschissene Netzteil von dem Rollstuhl nicht in die französischen Steckdosen passt. Okay?»
Seine Stimme war hart geworden. Ich schraubte die Thermosflasche zu. Ich musterte dabei höchst aufmerksam meine Schuhe, weil ich nicht wollte, dass er mein Gesicht sah.
«Okay», sagte ich.
«Okay.» Will atmete tief ein.
Unterhalb von uns hielt vor dem Burgtor ein Bus an und spuckte die nächste Ladung Besucher aus. Wir beobachteten schweigend, wie sie ausstiegen und im Gänsemarsch in die alte Festung gingen, bestens vorbereitet auf die Besichtigung der Ruinen einer untergegangenen Epoche.
Anscheinend bemerkte er, dass ich ein bisschen niedergeschlagen war, denn er neigte sich etwas in meine Richtung, und sein Gesichtsausdruck wurde weicher. «Also, Clark. Es hat aufgehört zu regnen. Wo sollen wir heute Nachmittag hin? Wie wär’s mit dem Labyrinth?»
«Nein.» Es kam schneller heraus, als ich es wollte, und
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