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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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der Nähe des Labyrinths stehen, und ich kramte in der Tasche des Rollstuhls nach einem Papiertaschentuch. Schweigend saßen wir nebeneinander, ich auf dem Ende der Bank, er im Rollstuhl, und warteten, bis mein Schluckauf verschwunden war.
    Gelegentlich warf er mir einen Seitenblick zu.
    «Also?», sagte er schließlich, als ich wohl so aussah, als könnte ich sprechen, ohne gleich wieder loszuheulen. «Erzählst du mir, was das eben war?»
    Ich zerknüllte das Taschentuch in der Hand. «Das kann ich nicht.»
    Er schloss den Mund.
    Ich schluckte. «Es liegt nicht an … dir», sagte ich hastig. «Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen … Es ist … es ist dumm. Und lange her. Ich hatte nicht gedacht … dass es …»
    Ich spürte seinen Blick auf mir und wünschte, er würde mich nicht ansehen. Meine Hände hörten nicht auf zu zittern, und mein Magen fühlte sich an, als hätte ich tausend Knoten darin.
    Ich schüttelte den Kopf, versuchte ihm zu vermitteln, dass es Dinge gab, die ich nicht aussprechen konnte. Ich wollte wieder nach seiner Hand greifen, aber ich wagte es nicht. Beinahe hörte ich seine unausgesprochenen Fragen.
    Unterhalb von uns parkten zwei Autos vor dem Burggelände. Zwei Menschen stiegen aus – von hier aus konnten wir nicht erkennen, wer sie waren – und umarmten sich. So standen sie ein paar Minuten, redeten vielleicht miteinander, und dann gingen sie zu ihren Autos zurück und fuhren in verschiedene Richtungen davon. Mein Verstand war wie eingefroren. Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte.
    «Okay. Folgendes», sagte er schließlich. Ich drehte mich zu ihm um, aber er sah mich nicht an. «Ich erzähle dir etwas, das ich nie jemandem sage. In Ordnung?»
    «In Ordnung.» Ich drückte das Papiertaschentuch in meiner Handfläche zu einem winzigen Ball zusammen.
    Er atmete tief ein.
    «Ich habe unheimliche Angst davor, wie es mit mir weitergeht.» Diesen Satz ließ er einen Moment lang zwischen uns schweben, dann sprach er weiter. «Ich weiß, dass die meisten Leute glauben, so zu leben wie ich wäre das Schlimmste, was einem passieren kann. Aber in Wahrheit kann es noch viel schlimmer werden. Es kann sein, dass ich eines Tages nicht mehr selbständig atmen kann, nicht mehr sprechen kann. Ich könnte Durchblutungsstörungen bekommen, die dazu führen, dass mir Arme und Beine amputiert werden müssen. Es könnte sein, dass ich den Rest meines Lebens im Krankenhaus liegen muss. Was ich jetzt habe, Clark, ist kein großartiges Dasein. Aber wenn ich daran denke, wie viel schlimmer es noch werden kann … in manchen Nächten liege ich im Bett und kriege keine Luft mehr.»
    Er schluckte. «Und weißt du was? Davon will niemand etwas hören. Niemand will mit einem über diese Ängste reden oder über die Schmerzen oder den Horror davor, an irgendeiner dummen Infektion zu sterben. Niemand will wissen, wie man sich fühlt, wenn man weiß, dass man nie wieder Sex haben wird, nie wieder etwas essen kann, das man selbst gekocht hat, nie das eigene Kind in den Armen halten wird. Niemand will wissen, dass ich mich manchmal so in diesem Stuhl gefangen fühle, dass ich bei dem Gedanken an den nächsten Tag am liebsten wie ein Verrückter losschreien würde. Meine Mutter steht kurz vor dem Zusammenbruch und kann mir nicht verzeihen, dass ich meinen Vater trotz allem liebe. Meine Schwester nimmt es mir übel, dass sie wieder einmal in meinem Schatten steht, und wegen meiner Behinderung darf sie mich nicht hassen, wie sie es seit unserer Kindheit getan hat. Mein Vater verdrängt am liebsten alles. Im Grunde genommen wollen sie nur die gute Seite sehen. Und sie brauchen es für sich selbst, dass auch ich die gute Seite sehe.»
    Er hielt kurz inne. «Sie brauchen die Hoffnung, dass es eine gute Seite gibt.»
    Ich blinzelte in die Dämmerung. «Tue ich das auch?», fragte ich leise.
    «Du, Clark», er sah auf seine Hände hinab, «bist der einzige Mensch, mit dem ich überhaupt reden konnte, seit dieser verdammte Unfall passiert ist.»
    Also erzählte ich es ihm.
    Ich griff nach seiner Hand. Der Hand, an der er mich aus dem Labyrinth geführt hatte, starrte auf meine Füße hinunter, holte tief Luft und erzählte ihm von der Nacht damals und wie sie über mich gelacht und sich lustig darüber gemacht hatten, wie betrunken und bekifft ich war und wie ich in Ohnmacht gefallen war und wie meine Schwester später gesagt hatte, das sei vielleicht sogar ganz gut gewesen, weil ich mich auf die Art

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