Ein ganzes halbes Jahr
leerten und weggeworfene Getränkeverpackungen und Bonbonpapiere zusammenkehrten, war die Burg sein privater Spielplatz. Als er mir das erzählte, dachte ich, wenn Treena und mir das Burggelände ganz allein zur Verfügung gestellt worden wäre, hätten wir wahrscheinlich die Faust in die Luft gerammt vor Ungläubigkeit und wären vollkommen aus dem Häuschen gewesen.
«Meine erste Freundin habe ich vor der Zugbrücke geküsst», sagte er und verlangsamte den Rollstuhl, um mich anzusehen, während wir auf dem Kiesweg waren.
«Haben Sie ihr gesagt, Sie wären der Burgherr?»
«Nein. Aber das hätte ich vielleicht machen sollen. Sie hat mich nämlich eine Woche später für den Jungen sitzenlassen, der im Lebensmittelladen arbeitete.»
Ich starrte ihn an. «Aber nicht Terry Rowlands, oder? Mit braunen, zurückgegelten Haaren und Tätowierungen bis zu den Ellbogen?»
Er hob eine Augenbraue. «Genau der.»
«Er arbeitet immer noch dort, wissen Sie. In dem Lebensmittelladen. Falls Ihnen das hilft.»
«Ich bin nicht sicher, ob er wahnsinnig neidisch auf mich wäre, wenn er wüsste, was aus mir geworden ist», sagte Will. Darauf verfiel er wieder in Schweigen.
Es war seltsam, die Burg so zu sehen, jetzt, wo alles ruhig war und wir die einzigen Besucher, bis auf den einen oder anderen Gärtner in der Entfernung. Statt die Touristen zu beobachten, abgelenkt von ihren Akzenten und ihrem Leben im Ausland, betrachtete ich vielleicht zum ersten Mal überhaupt die Burg und dachte über ihre Geschichte nach. Die Flintsteinmauern standen seit mehr als 800 Jahren. Dahinter waren Menschen geboren worden und gestorben, Liebe hatte sich erfüllt, und Herzen wurden gebrochen. Und jetzt, in der Stille, konnte man beinahe die Stimmen dieser Menschen hören und ihre Schritte auf dem Weg.
«Okay. Beichtstunde», sagte ich. «Sind Sie jemals hier herumgelaufen und haben heimlich so getan, als wären Sie ein Kriegsfürst?»
Will warf mir einen Seitenblick zu. «Ehrlich?»
«Natürlich.»
«Ja. Ich habe mir sogar eins von den Schwertern ausgeliehen, die in der Großen Halle an der Wand hängen. Es hat eine Tonne gewogen. Ich weiß noch, wie ich vor Angst erstarrt bin, als ich dachte, ich würde es nicht mehr in die Halterung heben können.»
Wir hatten die Hügelkuppe erreicht, und von hier aus, vor dem Burggraben, konnten wir den langgestreckten Rasenabhang hinuntersehen, der sich bis zu der eingestürzten Wallmauer hinzog, von der das Burggelände früher begrenzt wurde. Dahinter lag die Stadt mit ihren Neonschildern und Autoschlangen und der Geschäftigkeit einer Kleinstadt zur Feierabendzeit. Doch hier oben hörte man nur die Vögel zwitschern und das Summen des Rollstuhlmotors.
Will hielt kurz an und drehte den Stuhl so, dass wir nebeneinander den Abhang hinunterschauten. «Es wundert mich, dass wir uns nie begegnet sind», sagte er. «Als ich hier aufgewachsen bin, meine ich. Unsere Wege müssen sich doch gekreuzt haben.»
«Warum denn? Wir haben uns ja nicht gerade in denselben Kreisen bewegt. Und ich wäre nichts weiter als ein Baby im Kinderwagen gewesen, an dem Sie mit dem Schwert in der Hand vorbeigezogen wären.»
«Ah ja. Das hatte ich ganz vergessen. Im Verhältnis zu Ihnen bin ich ja uralt.»
«Acht Jahre hätten Sie eindeutig zum ‹älteren Mann› gemacht», sagte ich. «Noch zu meinen Teenagerzeiten hat mein Dad dafür gesorgt, dass ich nicht mit älteren Männern ausgehe.»
«Nicht einmal, wenn er seine eigene Burg hatte?»
«Na ja, ich vermute, da hätte er eine Ausnahme gemacht.»
Der süße Geruch nach Gras stieg zu uns auf, während wir weitergingen. Die Reifen des Rollstuhls ließen das Wasser in den Pfützen aufspritzen. Ich fühlte mich erleichtert. Unser Gespräch war nicht, wie es früher gewesen war, aber das war auch zu erwarten. Mrs. Traynor hatte recht – es war für Will sicher schwierig, anderen dabei zuzusehen, wie sie mit ihrem Leben weitermachten. Ich nahm mir vor, sorgfältiger darüber nachzudenken, wie mein Verhalten auf ihn wirken könnte. Ich wollte nicht mehr wütend sein.
«Gehen wir ins Labyrinth. Dort war ich schon Ewigkeiten nicht mehr.»
Damit riss er mich aus meinen Gedanken. «O nein. Nein danke.» Ich sah auf und stellte fest, wo wir auf einmal waren.
«Warum? Haben Sie Angst, sich zu verirren? Los, Clark. Das ist eine Herausforderung für Sie. Sie müssen versuchen, sich den Weg zu merken, auf dem Sie hineingehen, und auf demselben Weg zurückkommen. Ich stoppe Ihre
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