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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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hatten Treena und er das größere Zimmer, und ich hauste in der Abstellkammer, die so klein war, dass man nach spätestens einer halben Stunde klaustrophobische Anfälle bekam.
    Aber ich wollte nicht unten bei Mum und Großvater sitzen, weil mich Mum die ganze Zeit sorgenvoll betrachtete und Sachen sagte wie: «Es wird bald besser werden, Liebes» und «Der erste Tag bei einer neuen Stelle ist nie toll» – als hätte sie in den letzten zwanzig Jahren irgendeine verflixte Stelle gehabt. Ich bekam davon Schuldgefühle. Und dabei hatte ich mich überhaupt nicht beschwert.
    «Ich habe doch nicht gesagt, dass ich aufgebe.»
    Treena war ohne anzuklopfen hereingeplatzt, wie sie es immer tat, obwohl ich bei ihr immer erst leise klopfen musste – es konnte ja sein, dass Thomas gerade schlief.
    «Ich hätte nackt sein können. Wieso rufst du nicht wenigstens vorher?»
    «Ich habe schon Schlimmeres gesehen. Mum glaubt, du willst kündigen.»
    Ich ließ meine Beine seitwärts an der Wand hinuntergleiten und setzte mich auf.
    «O Treen. Es ist noch viel schlimmer, als ich gedacht habe. Er ist dermaßen schlecht drauf.»
    «Er kann sich nicht bewegen. Natürlich ist er schlecht drauf.»
    «Nein, das meine ich nicht. Er ist sarkastisch und gemein. Jedes Mal, wenn ich etwas sage oder vorschlage, sieht er mich an, als wäre ich bescheuert, oder er sagt etwas, bei dem ich mir wie eine Zweijährige vorkomme.»
    «Wahrscheinlich hast du wirklich etwas Bescheuertes gesagt. Ihr müsst euch noch aneinander gewöhnen.»
    «Nein, hab ich nicht. Ich habe mir so viel Mühe gegeben. Ich habe kaum etwas anderes gesagt als ‹Möchten Sie eine Spazierfahrt machen?› oder ‹Möchten Sie eine Tasse Tee?›.»
    «Na ja, vielleicht behandelt er am Anfang alle so, bis er weiß, ob die Leute bleiben oder nicht. Ich wette, er hatte schon Dutzende von Pflegehilfen.»
    «Er will mich nicht mal im selben Zimmer haben. Ich glaube nicht, dass ich das durchhalte, Katrina. Echt nicht. Ehrlich – wenn du das erlebt hättest, würdest du mich verstehen.»
    Treena sagte nichts, sondern schaute mich nur eine Weile an. Dann stand sie auf und sah zur Tür hinaus, als wollte sie sicher sein, dass im Treppenhaus niemand lauschte.
    «Ich glaube, ich gehe auf die Uni zurück», sagte sie schließlich.
    Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich diesen Themenwechsel verkraftet hatte.
    «O Gott», sagte ich. «Aber …»
    «Ich nehme einen Kredit auf, um die Studiengebühren zu bezahlen. Aber ich bekomme vielleicht auch ein spezielles Stipendium, weil ich Thomas habe, und die Uni bietet mir eine Ermäßigung an, weil sie …» Sie zuckte ein bisschen verlegen mit den Schultern. «Sie glauben, ich kann einen Spitzenabschluss hinlegen. Außerdem ist jemand aus dem BWL-Kurs ausgestiegen, sodass ich schon im nächsten Semester anfangen könnte.»
    «Und was ist mit Thomas?»
    «An der Uni gibt es eine Kindertagesstätte. Außerdem können wir eine subventionierte Wohnung im Studentenwohnheim kriegen und an den meisten Wochenenden hierherkommen.»
    «Oh.»
    Ich spürte, wie sie mich beobachtete. Ich wusste nicht, was für ein Gesicht ich machen sollte.
    «Ich muss unbedingt wieder mein Gehirn benutzen, verstehst du? Dieser Job im Blumenladen macht mich komplett stumpfsinnig. Ich will etwas lernen. Ich will weiterkommen. Und ich habe es satt, dass meine Hände von dem Wasser ständig eiskalt sind.»
    Wir starrten beide ihre Hände an, die trotz der tropischen Temperaturen im Haus ganz rosa waren.
    «Aber …»
    «Genau. Ich werde nicht arbeiten gehen, Lou. Ich werde Mum nichts mehr geben können. Ich könnte … Ich könnte am Anfang womöglich selber Hilfe von Mum und Dad brauchen.» Man merkte ihr das Unbehagen deutlich an. Als sie mich ansah, hatte sie einen beinahe entschuldigenden Ausdruck im Gesicht.
    Unten lachte Mum über etwas im Fernsehen. Wir hörten sie mit Großvater reden. Sie erklärte ihm oft, worum es bei den Sendungen ging, obwohl wir ihr ständig sagten, wie überflüssig das war. Ich brachte kein Wort heraus. Die Bedeutung dessen, was meine Schwester gerade gesagt hatte, sank langsam, aber unaufhaltsam in mich ein. Ich fühlte mich wie ein Mafia-Opfer, das zusieht, wie der Flüssigbeton langsam um seine Knöchel hochsteigt.
    «Ich muss das machen, Lou, wirklich. Ich will mehr für Thomas, mehr für uns beide. Und der einzige Weg, auf dem ich das erreichen kann, ist, wenn ich auf die Uni zurückgehe. Ich habe keinen Patrick. Und ich weiß auch nicht, ob

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