Ein ganzes halbes Jahr
mir mit seiner Skibrille genauer anzusehen. Er war auf dem Foto glatt rasiert, und selbst in dem hellen Sonnenlicht hatte sein Teint diesen luxuriösen Schimmer, den reiche Leute von drei Urlaubsreisen im Jahr bekommen. Er hatte so breite, muskulöse Schultern, dass man sie sogar unter seiner Skijacke bemerkte. Ich stellte das Bild behutsam zurück und staubsaugte hinter dem Bett. Schließlich stellte ich den Staubsauger ab und zog den Stecker heraus. Als ich mich hinunterbeugte, um das Kabel aufzurollen, bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung und zuckte mit einem leisen Schrei zusammen. Will Traynor war an der Tür und beobachtete mich.
«Courchevel. Vor zweieinhalb Jahren.»
Ich wurde rot. «Entschuldigung. Ich habe nur …»
«Sie haben nur meine Fotos angeschaut. Haben sich gedacht, wie schrecklich es sein muss, so zu leben und dann zum Krüppel zu werden.»
«Nein.» Noch mehr Blut schoss mir ins Gesicht.
«Meine übrigen Fotos sind in der untersten Schublade, falls Sie mal wieder die Neugier überkommt», sagte er.
Und dann drehte er sich mit dem Summton seines Rollstuhlmotors rechtsherum und verschwand.
Der Vormittag dauerte Ewigkeiten. Ich konnte mich nicht erinnern, wann sich die Minuten und Stunden schon einmal so unendlich lange hingezogen hatten. Ich suchte mir irgendwelche Beschäftigungen, um die Zeit herumzubringen, und ging so selten wie möglich ins Wohnzimmer. Ich wusste, dass ich feige war, aber das war mir egal.
Um elf Uhr brachte ich Will Traynor einen Becher Wasser und seine Krampfmittel, wie es mir Nathan aufgetragen hatte. Ich legte Will die Pille auf seine Zunge und bot ihm dann den Becher an, so wie es Nathan gesagt hatte. Der Becher war aus hellem, undurchsichtigem Kunststoff, so ein Schnabelding, wie es Thomas früher benutzt hatte. Will Traynor schluckte mit einiger Mühe und schickte mich dann mit einer schwachen Geste weg.
Ich staubte ein paar Regale ab, die nicht abgestaubt werden mussten, und überlegte, ob ich die Fenster putzen sollte. Im Anbau war es still, abgesehen von den leisen Geräuschen des Fernsehers im Wohnzimmer, wo er saß. Ich traute mich nicht, das Küchenradio anzuschalten. Ich hatte so eine Ahnung, dass er garantiert einen bissigen Kommentar über meinen Musikgeschmack parat hätte.
Um halb eins kam Nathan. Er brachte von draußen einen Schwall kalter Luft mit und zog eine Augenbraue hoch, als er mich sah. «Alles klar?», fragte er.
Ich war selten im Leben so froh gewesen, jemanden wiederzusehen. «Bestens.»
«Super. Sie können jetzt eine halbe Stunde Pause machen. Mr. T. und ich haben um diese Tageszeit ein paar Dinge zu erledigen.»
Ich rannte beinahe, um meinen Mantel zu holen. Eigentlich hatte ich zur Mittagspause nicht weggehen wollen, aber jetzt wurde ich beinahe ohnmächtig vor Erleichterung, weil ich aus diesem Haus herauskam. Ich schlug den Mantelkragen hoch, hängte mir die Handtasche über die Schulter und ging eilig die Auffahrt hinunter, als wollte ich dringend irgendwohin. In Wahrheit lief ich nur eine halbe Stunde in den benachbarten Straßen herum und blies warme Atemwolken in den Schal, den ich mir eng um Nase und Mund gewickelt hatte.
An diesem Ende der Stadt gab es kein Café mehr, seit das Buttered Bun geschlossen hatte. Das Burggelände war menschenleer. Die nächste Gelegenheit, etwas zu essen zu bekommen, war einer dieser Gastropubs, in dem ich mir vermutlich nicht mal einen Kaffee leisten konnte, von einem schnellen Mittagessen ganz zu schweigen. Sämtliche Autos auf dem Parkplatz waren riesig, teuer und nagelneu.
Ich ging zu dem Parkplatz vor der Burg, achtete darauf, dass ich außer Sichtweite vom Granta House war, und rief meine Schwester an. «Hey.»
«Du weißt doch, dass ich bei der Arbeit nicht telefonieren kann. Du bist doch nicht weggelaufen, oder?»
«Nein. Ich wollte nur eine freundliche Stimme hören.»
«Ist er so schlimm?»
«Treen, er hasst mich. Er sieht mich an, als wäre ich etwas, das die Katze reingeschleppt hat. Und er trinkt nicht mal Tee. Ich verstecke mich vor ihm.»
«Ich fasse es nicht!»
«Was?»
«Sprich einfach mit ihm, verdammt noch mal. Ist doch klar, dass er mies drauf ist. Er sitzt schließlich im Rollstuhl. Wahrscheinlich hast du dich dämlich verhalten. Sprich einfach mit ihm. Lerne ihn kennen. Was kann denn schon passieren?»
«Ich weiß nicht … Ich weiß nicht, ob ich das durchhalte.»
«Ich werde Mum nicht sagen, dass du nach einem halben Tag deinen Job
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