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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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natürlich mehr als genug Gelegenheit, Will Traynor aus nächster Nähe zu studieren. Anscheinend war er fest entschlossen, dem Mann, der er früher gewesen war, möglichst wenig zu ähneln. Er hatte sein hellbraunes Haar zu einer konturlosen Mähne wuchern lassen, und er rasierte sich nicht. Seine grauen Augen waren von Erschöpfung gezeichnet, oder vielleicht waren es auch die Auswirkungen der Schmerzen (Nathan sagte, Will fühle sich fast nie vollständig wohl). Sie hatten den leeren Blick eines Menschen, der sich ständig vor seiner Umgebung zurückzog. Ich fragte mich, ob das seine Verteidigungsstrategie war: so zu tun, als wäre nicht er es, dem das alles passierte. War das der einzige Weg, auf dem er sein Leben ertragen konnte?
    Ich versuchte, Mitleid für ihn zu empfinden. Ich versuchte es wirklich. Wenn ich ihn sah, wie er aus dem Fenster starrte, dachte ich, dass er vermutlich der traurigste Mensch war, den ich je getroffen hatte. Und als mir im Laufe der Zeit klar wurde, dass sein Leiden nicht allein darin bestand, an diesen Stuhl gefesselt zu sein und seine körperliche Bewegungsfreiheit verloren zu haben, sondern auch in einer unendlichen Serie von Demütigungen und Gesundheitsproblemen, von Risiken und Schmerzen, erkannte ich, dass ich an Wills Stelle wahrscheinlich genauso unausstehlich wäre.
    Trotzdem, er war einfach so fies zu mir. Auf alles, was ich sagte, hatte er eine gemeine Antwort. Wenn ich ihn fragte, ob ihm warm genug war, gab er zurück, er sei sehr wohl in der Lage, es mich wissenzulassen, wenn er noch eine Decke brauchte. Wenn ich fragte, ob der Staubsauger zu laut war – ich wollte ihn nicht beim Fernsehen stören –, erkundigte er sich, ob ich etwa eine Methode entwickelt hätte, ihn leiser laufen zu lassen. Wenn ich ihn fütterte, war ihm das Essen entweder zu heiß oder zu kalt, oder ich hatte ihm die nächste Gabel voll hingehalten, bevor er Zeit gehabt hatte, den Bissen davor hinunterzuschlucken. Er hatte die Fähigkeit, praktisch alles, was ich sagte oder tat, so zu kommentieren, dass ich dumm dastand.
    Während dieser ersten Wochen wurde ich ziemlich gut darin, eine vollkommen ausdruckslose Miene aufzusetzen, dann drehte ich mich um und verschwand im Gästezimmer, und ich redete so wenig wie möglich mit ihm. Ich fing an, ihn zu hassen, und ich bin sicher, dass er es wusste.
    Mir war nicht klar gewesen, dass ich meinem alten Job noch mehr nachtrauern könnte, als ich es ohnehin schon tat. Ich vermisste Frank und seinen erfreuten Blick, wenn ich morgens ankam. Ich vermisste die Gäste des Cafés, ihre Gesellschaft und das Geplauder, das um mich anschwoll und verebbte wie ein sanftes Meer. In diesem Anwesen, so schön und luxuriös es auch sein mochte, ging es so still und schweigsam zu wie in einem Leichenschauhaus. Sechs Monate , flüsterte ich vor mich hin, wenn es ganz unerträglich wurde. Nur sechs Monate.
    Und dann, an einem Donnerstag, als ich gerade Wills vormittägliches Kaloriengetränk mischte, hörte ich Mrs. Traynors Stimme in der Diele. Allerdings war sie dieses Mal nicht allein. Ich wartete ab, die Gabel in der Hand. Ich hörte die höfliche Stimme einer jungen Frau und die eines Mannes.
    Mrs. Traynor tauchte an der Küchentür auf, und ich versuchte, beschäftigt zu wirken, indem ich den Trinkbecher heftig kreisen ließ.
    «Haben Sie die Sechzig-zu-vierzig-Mischung von Wasser und Milch beachtet?», fragte sie und beäugte das Getränk.
    «Ja. Es ist die Sorte mit Erdbeergeschmack.»
    «Wills Freunde sind zu Besuch gekommen. Es wäre vermutlich am besten, wenn Sie …»
    «Ich habe eine Menge zu tun», sagte ich. Ich war richtig erleichtert, dass mir seine Gesellschaft eine Stunde lang erspart blieb. Ich schraubte den Deckel auf den Becher. «Möchten Ihre Gäste vielleicht einen Tee oder einen Kaffee?»
    Sie sah mich beinahe überrascht an. «Ja. Das wäre sehr freundlich von Ihnen. Kaffee. Ich denke, ich …»
    Sie wirkte noch angespannter als gewöhnlich, ihr Blick jagte Richtung Flur, aus dem Stimmengemurmel zu hören war. Ich vermutete, dass Will nicht gerade oft Besuch bekam.
    «Ich glaube … Ich lasse sie am besten allein mit ihm.» Sie schaute zum Flur, mit den Gedanken offensichtlich weit weg. «Rupert. Es ist Rupert, sein alter Freund aus dem Büro», sagte sie und drehte sich unvermittelt wieder zu mir um.
    Ich hatte das Gefühl, dass dieser Besuch irgendwie bedeutsam für sie war und dass sie das jemandem vermitteln wollte, selbst wenn es nur ich

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