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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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nur neben ihm sitzen. Und nicht zu laut mit deiner Chipstüte rascheln. Oder, wenn du was Gewagteres möchtest …» Sie grinste mich an. «Da gibt es so einen Strip-Club. In London.»
    «Ich soll meinen Arbeitgeber zu einem Striptease schleppen?»
    «Na ja, du machst doch schon alles für ihn … wischst ihm den Mund ab, fütterst ihn und so weiter. Da kannst du auch neben ihm sitzen, während er eine Latte kriegt.»
    «Treena!»
    «Wieso? Das fehlt ihm garantiert. Du könntest ihm sogar eine Tänzerin organisieren, die sich ein bisschen auf seinem Schoß rekelt.»
    Mehrere Leute drehten sich nach uns um. Meine Schwester lachte. Sie konnte immer so über Sex reden. Als wäre es nichts anderes als ein Gymnastikkurs nach Feierabend. Als wäre es nebensächlich.
    «Und dann gibt es noch die größeren Ausflüge. Ich weiß nicht, an was du gedacht hast, aber du könntest zu einer Weinprobe an die Loire fahren … das ist nicht zu weit.»
    «Können Tetraplegiker betrunken werden?»
    «Das weiß ich nicht. Frag ihn.»
    Stirnrunzelnd betrachtete ich die Liste. «Ich soll also zu den Traynors gehen und ihnen erklären, dass ich ihren gelähmten Sohn betrunken machen, ihr Geld für Stripperinnen ausgeben und ihn anschließend zur Behindertenolympiade fahren will.»
    Treena riss mir den Zettel aus der Hand. «Na und? Du hast dir schließlich auch noch nichts Besseres einfallen lassen.»
    «Ich habe einfach gedacht … ich weiß auch nicht.» Ich rieb mir die Nase. «Ehrlich gesagt, bin ich ein bisschen entmutigt. Ich habe ja schon Probleme, wenn ich ihn dazu überreden will, mal in den Garten rauszugehen.»
    «Also, das ist ja wohl kaum die richtige Einstellung, oder? Oh, sieh mal. Sie kommen. Lächeln!»
    Wir schoben uns nach vorn und begannen, die Läufer anzufeuern. Es war ziemlich schwer, das erforderliche Maß an Motivationslärm zu produzieren, da wir vor Kälte kaum noch die Lippen auseinanderbekamen.
    Inzwischen sah ich Patrick mit gesenktem Kopf in einem Meer angespannter Körper, das Gesicht schweißnass, sämtliche Sehnen im Hals angespannt und die Miene verzerrt, als würde er gerade gefoltert. Genau dieses Gesicht würde zu strahlen beginnen, sobald er die Ziellinie hinter sich hatte. Es war, als könnte er nur dann ein Hochgefühl erreichen, wenn er vorher seine Leistungsfähigkeit bis über die Schmerzgrenze hinaus ausgelotet hatte. Er sah mich nicht.
    «Los, Patrick!», rief ich matt.
    Und er flitzte vorbei in Richtung Ziellinie.

    Nachdem ich nicht die gewünschte Begeisterung für ihre To-do-Liste gezeigt hatte, redete Treena zwei Tage lang nicht mit mir. Meine Eltern bekamen davon nichts mit; sie waren einfach nur froh, dass ich beschlossen hatte, meinen Job doch nicht aufzugeben. Die Geschäftsleitung der Möbelfabrik hatte zum Ende der Woche mehrere Versammlungen einberufen, und Dad war überzeugt davon, entlassen zu werden. Sie siebten anscheinend alle aus, die über vierzig waren.
    «Wir sind so dankbar für das Haushaltsgeld von dir, Liebes», sagte Mum derartig oft, dass es mir unangenehm wurde.
    Es war eine merkwürdige Woche. Treena begann für die Uni zu packen, und jeden Tag musste ich mich in den ersten Stock schleichen, um in ihren Reisetaschen zu überprüfen, welche meiner Sachen sie mitzunehmen gedachte. Meine Kleidung schien sie weniger zu interessieren, aber ich hatte schon meinen Föhn, meine gefälschte Prada-Sonnenbrille und meine liebste Kulturtasche mit dem Zitronenmuster aus ihrem Gepäck geholt. Wenn ich sie zur Rede stellte, sagte sie nur schulterzuckend so etwas wie: «Wieso? Du benutzt das doch eh nie.» Als ginge es darum.
    Das war typisch Treena. Sie glaubte wirklich, sie hätte das Recht dazu. Sogar als Thomas schon da war, hatte sie sich immer noch als das Nesthäkchen der Familie gefühlt. Sie lebte in der tiefverwurzelten Überzeugung, dass sich die ganze Welt nur um sie drehte. Früher, als wir noch klein waren, steigerte sie sich immer in einen Wutanfall hinein, wenn sie etwas haben wollte, das mir gehörte. Mum sagte dann meist zu mir: «Bitte, gib’s ihr doch einfach», nur um endlich Ruhe zu haben. Und beinahe zwanzig Jahre später hatte sich daran eigentlich nichts geändert. Wir mussten für Thomas den Babysitter spielen, damit Treena ausgehen konnte, ihn füttern, damit sich Treena nicht darum kümmern musste, ihr extratolle Geschenke zum Geburtstag und an Weihnachten machen, «weil sie wegen Thomas so oft leer ausgeht». Tja, aber jetzt sollte sie gefälligst

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