Ein ganzes halbes Jahr
mir warf.
Am Samstagvormittag ging ich in die Bibliothek. Ich glaube, ich war seit meiner Schulzeit nicht mehr dort gewesen – vermutlich hatte ich Angst, dass sie sich an das Judy-Blume-Buch erinnern würden, das ich in der siebten Klasse verloren hatte, und dass mich die klamme Hand eines Behördenvertreters aufhalten würde, wenn ich durch das Säulenportal kam, um mir 3853 Pfund Mahngebühren abzufordern.
Es war nicht mehr wie früher. Anscheinend war die Hälfte der Bücher durch CDs und DVDs, große Regale voller Hörbücher und sogar Gestelle mit Postkarten ersetzt worden. Und es war nicht ruhig. Singen und Klatschen drang aus der Kinderbuchecke zu mir herüber, wo eine Mutter-Kind-Gruppe in voller Aktion war. Leute lasen Zeitschriften oder unterhielten sich leise. In der Abteilung, in der immer alte Männer über den Tageszeitungen geschnarcht hatten, stand nun ein großer, ovaler Tisch mit Computern. Ich setzte mich zögernd vor einen davon und hoffte, dass mich niemand beobachtete. Computer sind, genauso wie Bücher, eher das Ding meiner Schwester. Glücklicherweise hatte man in der Bibliothek anscheinend mit der Panik von Leuten wie mir gerechnet. Eine Bibliothekarin blieb neben mir stehen und gab mir eine Karte und ein laminiertes Blatt mit einer Anleitung. Sie schaute mir nicht über die Schulter, sondern murmelte, sie wäre an der Ausgabe, falls ich noch Fragen hätte, und dann saß ich allein auf meinem Stuhl vor dem leeren Bildschirm.
Der einzige Computer, mit dem ich in den vergangenen Jahren zu tun gehabt hatte, war der von Patrick. Er benutzte ihn eigentlich nur, um Trainingspläne herunterzuladen oder bei Amazon Bücher über Sport zu bestellen. Falls er sonst noch etwas damit machte, wollte ich es lieber gar nicht wissen. Ich befolgte die Anleitung und überprüfte jeden Schritt doppelt und dreifach, bevor ich auf die Return-Taste drückte. Und erstaunlicherweise funktionierte es, und es funktionierte nicht nur, es war sogar ganz einfach .
Vier Stunden später hatte ich den Anfang meiner Liste.
Und niemand erwähnte das verschollene Buch. Das lag allerdings wahrscheinlich daran, dass ich damals den Bibliotheksausweis meiner Schwester benutzt hatte.
Auf dem Heimweg ging ich noch kurz in den Schreibwarenladen und kaufte einen Kalender. Keinen von diesen Motivkalendern, wo einen jeden Monat ein anderes Bild von Justin Timberlake erwartete. Es war ein Wandkalender – wie man sie aus Büros kennt, auf denen mit Filzstift die Urlaubszeiten eingetragen werden. Ich kaufte ihn mit der munteren Entschlossenheit einer Person, die nichts lieber tut, als sich in Planungsaufgaben zu stürzen.
In meinem Zimmer faltete ich den Kalender auf, hängte ihn an die Tür und kreiste den Tag ein, an dem ich bei den Traynors angefangen hatte. Anfang Februar, es schien mir eine Ewigkeit her. Dann zählte ich nach vorn und kreiste das andere Datum ein, den zwölften August – bis dahin waren es nur noch knapp vier Monate. Ich trat einen Schritt zurück und schaute den kleinen schwarzen Kreis an, versuchte, in ihm die schwerwiegende Bedeutung dessen zu erkennen, was er ankündigte. Und während ich das tat, wurde mir erst richtig klar, was ich mir vorgenommen hatte.
Ich musste diese kleinen weißen Rechtecke mit Dingen füllen, die Glück, Zufriedenheit, Erfüllung oder Freude brachten, damit es für ein ganzes Leben reichte. Ich würde sie mit jeder guten Erfahrung füllen müssen, die ich mir für einen Mann ausdenken konnte, dessen kraftlose Arme und Beine dazu führten, dass er solche Erfahrungen nicht mehr selbst auslösen konnte. Ich hatte knapp vier Monate kleiner Rechtecke mit Ausflügen, Reisen, Besuchen, Abendessen und Konzerten vollzupacken. Ich musste alle praktischen Fragen vor der Durchführung klären und mich so genau informieren, dass nichts schiefgehen konnte.
Und dann musste ich Will dazu bringen mitzumachen.
Ich starrte meinen Kalender an, den Stift immer noch in der Hand. Auf einmal vermittelte mir die mit Rechtecken bedruckte Fläche das Gefühl einer unglaublichen Verantwortung.
Ich hatte hundertsiebzehn Tage, um Will Traynor davon zu überzeugen, dass es sich lohnte weiterzuleben.
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Kapitel 11
E s gibt Orte, an denen der Jahreszeitenwechsel an Zugvögeln oder der Gezeitenhöhe ablesbar ist. In unserer kleinen Stadt war es die Rückkehr der Touristen. Zuerst tröpfelten sie nur vereinzelt aus Bussen oder Autos, in leuchtend bunten Regenjacken, den Reiseführer
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