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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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irgendwie verändert und undurchschaubar zurück, als wäre er nicht mehr derselbe Junge, der uns als Elfjähriger mit aufgeschrammten Knien in der Französisch-Doppelstunde mit Spucke-Papier-Kügelchen beschossen hatte. Ich hatte spontan einen Billigflug nach Australien gebucht und suchte jemand, der mitfahren wollte. Mir gefiel der exotische Reiz, den der Junge seit seiner Reise hatte, seine Undurchschaubarkeit. Er hatte sich den Wind der weiten Welt um die Nase wehen lassen, und das war eigenartig verführerisch. In unserer Stadt wusste jeder alles über mich. Und mit einer Schwester wie meiner war es unmöglich, das zu vergessen.
    Es war Freitag, und ich hatte zusammen mit ein paar Mädchen aus der Schule tagsüber als Parkplatzwächterin gearbeitet und die Besucher zu einem Kunsthandwerkermarkt im Burgbezirk geschickt. Wir hatten den ganzen Tag gelacht, in der Hitze Limonade getrunken, der Himmel war strahlend blau, und das Licht schimmerte hell auf den Wallmauern. Ich glaube, an diesem Tag haben mich sämtliche Touristen angelächelt. Kaum jemand lächelt nicht, wenn er eine Gruppe fröhlicher, kichernder Mädchen sieht. Wir bekamen dreißig Pfund, und die Organisatoren des Kunstmarktes waren so zufrieden mit den Einnahmen, dass sie uns noch jeweils einen Extra-Fünfer gaben. Das feierten wir, indem wir uns mit ein paar Jungs betranken, die auf dem anderen Parkplatz bei der Touristeninformation gearbeitet hatten. Sie waren höflich, sie trugen Rugby-Shirts, und ihre Haare hingen ihnen lässig ins Gesicht. Einer hieß Ed, zwei waren Studenten – mir fällt nicht mehr ein, an welcher Uni –, und auch sie arbeiteten, um Geld für eine Reise zu verdienen. Nach einer Woche hatten sie reichlich Bares, und als unser Geld aufgebraucht war, bezahlten sie gern die Drinks für aufgekratzte Mädchen aus dem Ort, die ihr Haar zurückwarfen, sich bei ihnen auf den Schoß setzten, kreischten, lachten und sie eingebildet nannten. Sie waren anders als wir. Sie redeten über Sommerferien in Südamerika, Rucksacktouren durch Thailand und darüber, wer von ihnen ein Auslandspraktikum machen wollte. Während wir zuhörten und tranken, kam meine Schwester an dem Biergarten vorbei, in dem wir auf der Wiese lagen. Sie trug einen steinalten Kapuzenpulli, war nicht geschminkt, und ich hatte vergessen, dass ich mich mit ihr treffen wollte. Ich sagte ihr, sie solle Mum und Dad ausrichten, ich käme nach Hause, wenn ich dreißig geworden wäre. Aus irgendeinem Grund fand ich das wahnsinnig komisch. Sie hatte die Augenbrauen hochgezogen und war mit einer Miene verschwunden, als wäre ich der lästigste Mensch, der je geboren worden war.
    Als der Red Lion zumachte, setzten wir uns alle in die Mitte des Heckenlabyrinths auf dem Burggelände. Irgendwem war es gelungen, über das Tor zu steigen, und nach vielen Irrgängen, Zusammenstößen und Lachanfällen fanden wir uns schließlich in der Mitte des Labyrinths wieder und tranken Bier, während jemand einen Joint herumgehen ließ.
    Ich weiß noch, dass ich zu den Sternen hinaufsah, mich in der unendlichen Ferne verlor und der Boden unter mir schwankte, als wäre ich an Deck eines riesigen Schiffs. Jemand spielte Gitarre, und ich trug ein paar rosafarbene Satinstöckelschuhe, mit denen ich das hohe Gras niedertrat und die ich mir später nie zurückholte. Vermutlich hielt ich mich für die Herrscherin des Universums.
    Es dauerte eine halbe Stunde, bis ich mitbekam, dass die anderen Mädchen gegangen waren.
    Meine Schwester fand mich einige Zeit später, dort in der Mitte des Labyrinths, als die Sterne schon längst hinter den Nachtwolken verschwunden waren. Wie ich schon sagte, sie ist ziemlich schlau. Schlauer als ich jedenfalls.
    Sie war der einzige Mensch, den ich kannte, der aus dem Labyrinth fand, ohne sich zu verirren.

    «Sie werden lachen. Ich habe jetzt einen Bibliotheksausweis.»
    Will saß vor seiner CD-Sammlung. Er drehte seinen Stuhl herum und wartete, bis ich seinen Becher in die Halterung gestellt hatte. «Wirklich? Und was lesen Sie?»
    «Oh, nichts Vernünftiges. Nichts, was Ihnen gefallen würde. Es sind nur Liebesromane. Aber ich mag sie.»
    «Sie haben meine Flannery O’Connor gelesen.» Er trank einen Schluck. «Als ich krank war.»
    «Die Kurzgeschichten? Unglaublich, dass Sie das mitbekommen haben.»
    «Das war nicht zu übersehen. Sie haben das Buch neben dem Regal liegenlassen. Ich kann es nicht aufheben.»
    «Aha.»
    «Also lesen Sie keinen Mist. Nehmen Sie die

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