Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom
Wahrnehmungen von Farben, Formen, Beschaffenheiten, Bewegungen, Gerüchen oder Geschmacksempfindungen begleitet werden. Liane schrieb dazu: »Ich habe oft lange nach Wörtern gesucht, die kitzeln, Wörter, die sich glatt anfühlten, und Wörter, die mich wärmten, wenn ich sie aussprach.« 55
Auch Jim bemerkte, dass akustische Reize mit anderen sensorischen Prozessen in Konflikt gerieten. So musste er »die Küchengeräte abschalten, damit ich etwas schmecken konnte.« 56 Eine ungewöhnliche sensorische Verarbeitung kann auch darin bestehen, dass es einem schwerfällt, den Sinneskanal zu bestimmen, über den man einen Reiz wahrnimmt. Jim erklärt es so: »Manchmal weiß ich, dass etwas von irgendwo in meine Wahrnehmung gelangt ist, aber ich weiß dann nicht sofort, über welchen Sinneskanal.« 57 Eine solche Wahrnehmung muss sehr verwirrend sein. Wir fangen gerade erst an, diesen Bereich der Sinneswahrnehmung wirklich zu verstehen. 58
AUS DEM LEBEN
»Wer kann diesen Lärm ertragen?«
Die abschließenden Worte dieses Kapitels über die sensorische Wahrnehmung stammen von Liane Holliday Willey, die ihre eigene Wahrnehmung und ihr Leben im »Raumklang« akzeptiert und so beschreibt:
»Ich denke, meine Mädchen haben gelernt zu akzeptieren, wie ich in der Öffentlichkeit auftrete, ohne dass ihnen das viel ausmacht oder sie sich deswegen schämen. Sicher, sie sagen mir immer wieder, dass ich in der Öffentlichkeit nicht mit mir selbst reden, dass ich anderen gegenüber nicht mit zu lauter Stimme sprechen oder dass ich nicht jeden Menschen damit nerven sollte, dass ich über meine Hunde rede; sie sagen mir, dass ich in den Gesprächen nicht vom Hundertsten ins Tausendste kommen und dass ich mir im Park nicht die Ohren zuhalten und «Wer um Himmels willen kann diesen Lärm ertragen?» schreien oder mir nicht die Nase zuhalten und «Mein Gott, stinkt das hier» sagen soll. Aber für mich ist das okay, denn trotzdem sagen sie mir auch immer wieder, dass sie mich trotz meiner Ticks und verrückten Angewohnheiten lieben, egal was kommt.« 59
ZUSAMMENFASSUNG
Sensorische Empfindlichkeit
Einige Erwachsene sind durch ihre sensorische Überempfindlichkeit im Alltag stärker beeinträchtigt als durch die Probleme beim Finden von Freunden, bei der Gefühlssteuerung oder bei der Arbeitssuche.
Die häufigste Überempfindlichkeit besteht gegenüber bestimmten Geräuschen, es gibt aber auch solche in Bezug auf Berührungsreize, die Intensität des Lichts, auf den Geschmack und die Beschaffenheit des Essens und bestimmte Gerüche. Es gibt Über- und Unterreaktionen auf Schmerz. Außerdem können der Gleichgewichtssinn sowie die Bewegungswahrnehmung und der Orientierungssinn beeinträchtigt sein.
Das Kind mit sensorischer Überempfindlichkeit wird in einer Umgebung mit vielen sensorischen Reizen, wie etwa im Klassenzimmer, überaufmerksam, verkrampft und ablenkbar. Es ist unsicher, wann die nächste schmerzvolle sensorische Wahrnehmung auftritt.
Die Symptome sind besonders deutlich in der frühen Kindheit und verschwinden oft im Jugendalter. Bei einigen bleiben sie aber ein Leben lang erhalten.
Geräuschempfindlichkeit
Es gibt drei Arten von Geräuschen, die als besonders unangenehm wahrgenommen werden:
überraschende, unerwartete Geräusche,
hohe, andauernde Geräusche; verwirrende, komplexe, sich überlagernde Geräusche.
Einige dieser Geräusche lassen sich vermeiden. Mit Ohrstöpseln können die akustischen Reize reduziert werden. Erklären Sie Kindern die Ursache und Dauer unvermeidbarer Geräusche mithilfe einer Social Story.
Es gibt zwei Therapieformen, die bei akustischer Überempfindlichkeit angewendet werden:
die sensorische Integrationstherapie und
die auditive Integrationstherapie. Die Wirksamkeit beider Therapien wurde bislang noch nicht objektiv bestätigt.
Berührungsempfindlichkeit
Manchmal besteht eine Überempfindlichkeit bei bestimmten Berührungen, einem bestimmten Maß an Druck oder der Berührung bestimmter Körperteile.
Überempfindlichkeit bei Gerüchen und bestimmtem Essen
Eltern berichten häufig, dass ihr Kind Gerüche wahrnimmt, die andere nicht bemerken. Sie sind oft sehr wählerisch beim Essen.
Mit der Zeit verringert sich die Überempfindlichkeit, doch die Angst und das Vermeidungsverhalten bleiben oft bestehen. Dann könnte eine Desensibilisierungstherapie helfen.
Visuelle Überempfindlichkeit
Etwa jedes fünfte Kind mit Asperger-Syndrom zeigt eine Überempfindlichkeit gegenüber heller Beleuchtung
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