Ein Garten im Winter
der Besitzer des Bed&Breakfast ihnen gewiesen hatte. Es war immer noch nicht ganz dunkel. Der Himmel war pflaumenfarben und mit Sternen übersät. Die Sterne wirkten so plastisch, als bräuchte man nur die Hand auszustrecken, um sie anzufassen. Leichter Wind fuhr raschelnd durch die Bäume. Dies war, neben ihren Schritten, das einzige Geräusch. Irgendwo in der Ferne tutete ein Nebelhorn.
Die Häuser auf der Straße wirkten altmodisch, mit Veranden nach vorn hinaus und Spitzdächern. Die Vorgärten waren gepflegt, überall roch es nach Rosen. Ihr süßer Duft vermischte sich mit dem würzigen Geruch der nahe gelegenen See.
»Dieses Haus ist es«, sagte Meredith. Sie hatte die Straßenkarte.
»Es ist noch Licht. Sehr gut«, bemerkte Nina.
Die Mutter stand nur da und starrte auf das gepflegte weiße Haus. Das Verandageländer war genauso kunstvoll geschnitzt wie ihres zu Hause, und auch der Dachfirst war verziert. Dadurch wirkte es wie aus einem Märchen. »Es sieht aus wie die Datscha meines Vaters«, stellte sie fest. »Sehr russisch, aber auch amerikanisch.«
Nina trat zu ihrer Mutter und fasste sie am Arm. »Bist du sicher, dass du das jetzt tun willst?«
Als Antwort setzte sich ihre Mutter forsch in Bewegung.
An der Haustür holte sie tief Luft, straffte die Schultern und klopfte energisch. Zweimal.
Ein kleiner, gedrungener Mann mit dichten schwarzen Augenbrauen und grauem Schnurrbart öffnete. Es schien ihn überhaupt nicht zu überraschen, um halb zehn Uhr abends drei fremde Frauen auf seiner Schwelle stehen zu sehen. »Hallo, guten Abend«, grüßte er sie.
»Phillip Kiseljew?«, fragte die Mutter und griff nach der Tasche mit den Kassetten, die Nina trug.
»Diesen Namen habe ich schon seit einiger Zeit nicht mehr gehört«, erwiderte der Mann.
Sie zog ihre Hand zurück. »Dann sind Sie nicht Phillip Kiseljew?«
»Nein, nein. Ich bin Gerald Koontz. Phillip war mein Cousin. Er ist verstorben.«
»Oh«, sagte die Mutter und runzelte die Stirn. »Es tut mir leid, Sie belästigt zu haben. Wir haben wohl eine falsche Information bekommen.«
Meredith sah auf den Zettel in der Hand ihrer Schwester. Sie hatten sich nicht verlesen. Dies war die Adresse, die man ihnen genannt hatte. »Dr. Adamowitsch muss –«
»Wassja?« Geralds Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln. Er drehte sich um und rief laut: »Hier sind Freunde von Wassja, Schatz.«
»Eigentlich sind wir keine Freunde«, erwiderte die Mutter. »Entschuldigen Sie, dass wir Sie gestört haben. Wir werden uns noch mal erkundigen.«
Da kam eine Frau zur Tür geeilt. Sie trug eine seidig schwarze Hose und eine fließende Tunika darüber. Ihr lockiges graues Haar war zu einem lässigen Pferdeschwanz gebunden.
»Stacey?«, fragte Nina überrascht. Eine Sekunde später erkannte Meredith die Kellnerin aus dem russischen Restaurant wieder.
»Ach was«, sagte Stacey und strahlte. »Wenn das nicht meine neuen russischen Freunde sind. Kommen Sie herein.« Sie wandte sich zu Gerald und erklärte: »Sie haben neulich im Restaurant gegessen. Ich hab ihnen den Kaviar serviert.«
Gerald grinste. »Dann haben Sie ihr wohl auf Anhieb gefallen.«
Nina trat zuerst ein und zog ihre Mom hinter sich her.
»Hier«, bat Stacey. »Setzen Sie sich doch. Ich mache uns Tee, und dann erzählen Sie uns, wie Sie zu uns gekommen sind.« Sie führte sie in ein gemütlich wirkendes Wohnzimmer, in dem es auch eine Ottomane und einen Ikonenschrein gab, auf dem drei Kerzen brannten. »Gere meinte, Sie seien Freunde von Wassili?«
»Keine Freunde«, antwortete die Mutter und ließ sich steif in einen Sessel sinken.
Plötzlich hörte man ein Krachen, Gerald sagte: »Ach, die Enkelkinder!«, und rannte aus dem Zimmer.
»Wir passen diese Woche auf die Kinder unseres Sohnes auf. Ich habe vergessen, wie umtriebig sie in diesem Alter sind«, erklärte Stacey lächelnd. »Ich bin gleich mit dem Tee zurück.« Auch sie eilte aus dem Zimmer.
»Meinst du, Dr. Adamowitsch hat sich geirrt? Oder hat Maxim uns die falsche Adresse gegeben?«, fragte Meredith, kaum dass sie allein waren.
»Es ist schon ein merkwürdiger Zufall, dass diese Leute Russen sind und den Doktor kennen«, bemerkte Nina.
Plötzlich stand die Mutter so abrupt auf, dass sie mit dem Schienbein gegen den Couchtisch stieß, aber das schien sie nicht zu bemerken. Sie umrundete den Tisch, durchquerte das Zimmer und blieb vor dem Ikonenschrein stehen. Von ihrem Platz aus konnte Meredith die üblichen Requisiten
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