Ein Garten im Winter
es. Ein neues Zimmer wird frühestens Ende Juli frei, obwohl man das natürlich nie so genau wissen kann.«
Meredith war zu wütend, um höflich zu bleiben. Ohne ein Wort verließ sie das Gebäude und stieg in ihren Wagen. Zum ersten Mal in ihrem Leben beachtete sie das ausgewiesene Tempolimit nicht, so dass sie zwölf Minuten später schon in Belije Notschi ankam.
Im Haus stank es nach Rauch. In der Küche fand sie schmutziges Geschirr in der Spüle und eine offene Pizzaschachtel auf der Anrichte. Mehr als die Hälfte der Pizza war unberührt.
Aber das war noch nicht das Schlimmste.
Auf der vorderen Herdplatte stand ein durchgeschmorter, verformter Topf. Meredith musste ihn erst gar nicht anfassen, um zu wissen, dass er mit der Herdplatte verschmolzen war.
Sie wollte gerade die Treppe hinaufgehen, als sie einen Blick in den Garten warf. Durch die Flügeltüren sah sie sie: Ihre Mom und Nina saßen zusammen auf der schwarzen Bank.
Meredith zog eine der Flügeltüren so heftig auf, dass sie gegen die Wand knallte.
Als sie den Garten durchquerte, hörte sie die vertraute Märchenstimme ihrer Mutter und wusste sofort, dass sich ihre Verwirrung nicht gelegt hatte.
»… sie leidet unter dem Verlust ihres Vaters, der vom Schwarzen Ritter in den roten Turm gesperrt wurde, aber das Leben geht weiter. Dies ist die furchtbare Lektion, die jedes Mädchen lernen muss. Immer noch werden die Schwäne im Schlossgraben gefüttert, und immer noch amüsieren sich die Adligen in den Weißen Nächten am Ufer des Flusses. Sie weiß nicht, wie hart ein Winter sein kann, weiß nicht, dass Rosen in einer Sekunde gefrieren und abbrechen und dass Mädchen lernen können, in ihren weißen, weißen Händen Feuer zu halten –«
»Das reicht für heute, Mom«, sagte Meredith und versuchte, sich ihre Wut nicht anmerken zu lassen. »Lass uns ins Haus gehen.«
»Unterbrich sie nicht«, widersprach Nina.
»Du bist wohl nicht bei Trost«, sagte Meredith zu Nina, half ihrer Mutter auf und führte sie ins Haus, hinauf in ihr Zimmer, wo sie sich mit ihrem Strickzeug auf den Schaukelstuhl setzte.
Als sie wieder unten war, fand sie Nina in der Küche. »Was zum Teufel denkst du dir eigentlich!«
»Hast du ihre Geschichte gehört?«
»Was?«
»Ihre Geschichte. War das das Bauernmädchen und der Prinz? Erinnerst du dich –«
Meredith packte ihre Schwester am Handgelenk und zerrte sie zum Esszimmer, wo sie Licht machte.
Es sah noch genauso aus wie an dem Tag, als die Mutter vom Stuhl gefallen war. An etlichen Stellen war die Tapete heruntergerissen; die Streifen nackter Wand wirkten neben der leuchtenden Tapete wie Wunden. Hier und da waren schwärzlich rote Striemen quer über Wand und Tapete zu sehen.
Draußen, irgendwo auf den Feldern, hatte ein Wagen eine Fehlzündung.
Meredith wandte sich zu Nina, doch bevor sie etwas sagen konnte, hörte man jemanden die Treppe herunterrennen.
Die Mutter kam mit einem riesigen Mantel in die Küche gestürzt. »Habt ihr die Schüsse gehört? Runter! Auf der Stelle!«
Meredith nahm ihre Mutter beim Arm, weil sie hoffte, die Berührung würde ihr helfen. »Das war nur eine Fehlzündung, Mom. Alles ist in Ordnung.«
»Mein Löwe weint«, sagte die Mutter, und ihr Blick war glasig und trüb. »Er hat Hunger.«
»Hier gibt es keinen hungrigen Löwen«, erwiderte Meredith mit ruhiger, tröstender Stimme. »Möchtest du ein bisschen Suppe?«
»Wir haben Suppe?«
»Jede Menge. Und Brot und Butter und Kascha. Hier braucht niemand zu hungern.«
Sanft nahm Meredith ihrer Mutter den Mantel ab. In der Tasche fand sie vier Tuben Klebstoff.
Die Verwirrung wich so rasch, wie sie gekommen war. Ihre Mutter richtete sich auf, sah ihre Töchter an und verließ die Küche.
Nina wandte sich zu Meredith. »Was sollte das denn?«
»Siehst du? Manchmal wird sie … verrückt. Deshalb muss sie beaufsichtigt werden.«
»Du irrst dich«, sagte Nina und starrte immer noch zur Tür, durch die ihre Mutter verschwunden war.
»Dann erklär mir doch, wo ich mich irre, wenn du so viel schlauer bist als ich, Nina.«
»Das war keine Verwirrung.«
»Ach, nicht? Was war es dann?«
Da endlich sah Nina sie an. »Angst.«
Es überraschte Nina kaum, als Meredith mit der Hingabe einer Märtyrerin anfing, die Küche zu putzen. Sie wusste, dass ihre Schwester wütend war. Es hätte ihr etwas ausmachen müssen, aber es war ihr egal.
Stattdessen dachte sie über das Versprechen nach, das ihr Vater ihr abgerungen hatte.
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