Ein Garten im Winter
wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie konnte ihren Eindruck nicht mal im Ansatz verständlich machen. Sie wusste nur, dass sie vor kurzem einen wichtigen Teil ihrer selbst verloren hatte. Vielleicht würde sie diesen Teil zurückgewinnen, wenn sie das Versprechen ihrem Vater gegenüber erfüllte. »Ich werde sie dazu bringen, dass sie mir das Märchen bis zum Ende erzählt, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«
»Mach doch, was du willst«, seufzte Meredith schließlich. »Wie immer.«
Bei der Arbeit versuchte Meredith, sich in der täglichen Routine rund um die Plantage und die Lagerhäuser zu verlieren, doch nichts, was sie tat, war richtig. Sie fühlte sich, als würde der Druck in ihrer Brust mit jedem Atemzug zunehmen, und fürchtete, jede Minute zu explodieren. Nachdem sie zum dritten Mal einen Angestellten angeblafft hatte, kapitulierte sie und machte zur Schadensbegrenzung Feierabend. Sie warf einen Stapel Unterlagen auf Daisys Schreibtisch, sagte knapp: »Bitte einordnen«, und verschwand, bevor Daisy eine Frage stellen konnte.
Sie stieg in den Wagen und fuhr einfach los. Zuerst hatte sie keine Ahnung, wohin sie wollte. Irgendwann ertappte sie sich, dass sie einer alten, vergessenen Straße folgte, die direkt in ihre Jugend zurückführte.
Sie parkte vor dem Andenkenladen von Belije Notschi. Es war ein kleines, hübsches Gebäude am Rande des Highways, das von alten, blühenden Apfelbäumen umgeben war.
Viel früher hatte sich hier ein Stand mit Äpfeln befunden. Meredith hatte hier einige der schönsten Sommer ihres Lebens verbracht und Äpfel an Touristen verkauft.
Jetzt starrte sie durch die Windschutzscheibe auf das weiße Schindelhäuschen, dessen First mit weißen Lämpchen geschmückt war. Im Sommer würde hier alles voller Blumen sein: in Töpfen am Eingang, in Körben auf der Veranda und als Ranken am Zaun.
Ihre Idee war es gewesen, den Obststand durch einen Andenkenladen zu ersetzen. Sie erinnerte sich noch an den Tag, als sie mit ihrem Plan zu ihrem Vater gegangen war. Damals war sie eine junge Mutter gewesen, die ihre Kinder auf der Hüfte trug.
Das wird toll, Dad. Die Touristen werden uns bestürmen.
Eine Superidee, Meredoodle. Dein Erfolg ist dir sicher …
Sie hatte diesem Laden ihr ganzes Herzblut geschenkt und jeden einzelnen Verkaufsartikel sorgfältig ausgesucht. Der Erfolg war so durchschlagend gewesen, dass sie zweimal anbauen mussten und immer noch nicht genug Platz hatten, um all die schönen Souvenirs und Kunstgegenstände zu verkaufen, die in diesem Tal hergestellt wurden.
Nur ihrem Vater zuliebe hatte sie den Andenkenladen aufgegeben, um im Lagerhaus zu arbeiten.
Im Rückblick schien es, als sei dies genau die Weiche zu einem Leben gewesen, das im Grunde nicht das ihre war …
Sie legte den Rückwärtsgang ein und fuhr davon, mit leisem Bedauern, dass sie überhaupt vorbeigekommen war. Die nächste Stunde kurvte sie einfach durchs Tal und betrachtete die Veränderungen, die der Frühling mit sich gebracht hatte. Als sie schließlich in ihre eigene Einfahrt einbog, dämmerte es bereits.
Im Haus fütterte sie die Hunde und begann mit der Zubereitung des Abendessens, dann badete sie so lange, bis das Wasser kalt wurde.
Sie war immer noch so verwirrt und aufgebracht über die Geschehnisse des Tages, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte. Geschweige denn, was sie wollte. Nur eins wusste sie ganz sicher, nämlich, dass Nina wieder alles vermasselte und Meredith das Leben schwermachte. Sie hatte keinerlei Zweifel, dass alles in einem riesigen Chaos enden würde und Meredith es mal wieder beseitigen konnte.
Sie hatte es so satt, immer den Schwarzen Peter zu bekommen.
Sie trocknete sich ab, schlüpfte in einen bequemen Jogginganzug und verließ das Bad. Als sie sich die Haare trocknete, warf sie einen Blick auf das Ehebett, das eine ganze Wand einnahm.
Mit einem Stich der Sehnsucht erinnerte sie sich an den Tag, als Jeff und sie dieses Bett gekauft hatten. Es war viel zu teuer gewesen, aber sie hatten darüber gelacht und es einfach mit der Kreditkarte bezahlt. Als das Bett geliefert wurde, hatten sie beide früher Feierabend gemacht, sich lachend und küssend darauf fallen lassen und es dann mit Leidenschaft eingeweiht.
Das konnte sie jetzt auch brauchen: Leidenschaft.
Sie sehnte sich danach, dass ihr jemand die Kleider vom Leib riss und sie aufs Bett warf, damit sie alles über Nina, ihre Mutter, Pflegeheime und Märchen einfach vergessen
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