Ein Garten im Winter
sie dazu, euch das Märchen vom Bauernmädchen und dem Prinzen zu erzählen.
Damals war ihr das widersinnig und sogar unmöglich vorgekommen. Wie die verzweifelte Hoffnung eines Sterbenden, die drei hinterbliebenen Frauen zusammenzubringen.
Aber ohne ihn brach ihre Mom tatsächlich zusammen. Damit hatte er recht behalten. Und er hatte geglaubt, dass das Märchen ihr helfen könnte.
Meredith knallte einen Topf auf eine der intakten Herdplatten und fluchte. »Wir können den verdammten Herd nicht mehr benutzen, bis wir den Topf abgekratzt haben.«
»Dann nimm doch die Mikrowelle«, erwiderte Nina abwesend.
Meredith wirbelte herum. »Meinst du das ernst? Nimm doch die Mikrowelle? Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«
»Dad hat mir ein Versprechen –«
Meredith trocknete sich die Hände ab und warf das Küchentuch auf die Anrichte. »Ach, Herrgott noch mal! Wir werden ihr nicht helfen, wenn wir uns Märchen erzählen lassen. Wir helfen ihr nur, wenn wir sie vor sich selbst schützen.«
»Du willst sie also wieder wegsperren. Und warum? Damit du mit deinen Freundinnen essen gehen kannst?«
»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen. Ausgerechnet du!« Meredith trat näher zu ihr und senkte die Stimme. »Dad hat ständig Zeitschriften nach den Fotos seiner Kleinen durchforstet. Wusstest du das? Und er hat jeden Tag die Post, den Anrufbeantworter und die E-Mails auf Nachrichten von dir geprüft, die aber fast nie kamen. Also wage es nicht, mir Egoismus zu unterstellen.«
»Aufhören!«
Mit Nachthemd und gelöstem Haar stand die Mutter auf der Türschwelle. Ihre Schlüsselbeine stachen unter der blau geäderten Haut deutlich hervor. Sie trug ein kleines russisches Kreuz mit drei Querbalken an einer dünnen Goldkette um den Hals. Mit ihrem weißen Haar, der blassen Haut und dem weißen Nachthemd wirkte sie fast wie eine Erscheinung. Nur ihre irritierend blauen Augen loderten vor Zorn. »Wollt ihr ihn so in Ehren halten? Mit Streiten?«
»Wir streiten nicht«, widersprach Meredith und seufzte. »Wir machen uns nur Sorgen um dich.«
»Ihr denkt, ich wäre verrückt geworden.«
»Ich nicht«, bemerkte Nina und sah auf. »Ich hab die neue Säule im Wintergarten bemerkt, Mom. Ich hab die Buchstaben gesehen.«
»Was für Buchstaben?«, fragte Meredith.
»Das ist uninteressant«, wehrte die Mutter ab.
»Ist es nicht«, erwiderte Nina.
Ihre Mutter ließ sich nicht anmerken, ob sie das gehört hatte. Sie seufzte nicht, sie zuckte nicht zusammen, sie wandte den Blick nicht ab. Stattdessen ging sie zum Küchentisch und setzte sich.
»Wir wissen im Grunde nichts über dich«, meinte Nina.
»Die Vergangenheit ist unwichtig.«
»Das hast du schon immer gesagt, und wir haben es hingenommen. Vielleicht war es uns auch egal. Aber jetzt ist es mir nicht mehr egal«, antwortete Nina.
Langsam blickte die Mutter auf, und jetzt sah man deutlich, dass ihr Blick klar war – und traurig. »Du wirst nicht aufhören, mich mit Fragen zu löchern, stimmt’s? Natürlich stimmt es. Meredith wird versuchen, dich aufzuhalten, weil sie Angst hat, aber du lässt dich nicht aufhalten.«
»Dad hat mir das Versprechen abgenommen. Er wollte, dass wir eins deiner Märchen bis zum Ende hören. Ich kann ihn nicht enttäuschen.«
»Einem Sterbenden sollte man nichts versprechen. Ich hätte es besser wissen sollen. Diese Lektion hast du wohl jetzt auch gelernt.« Sie stand auf, ihre Schultern waren nur leicht gebeugt. »Eurem Vater würde es das Herz brechen, wenn er euch beide streiten sähe. Ihr könnt euch glücklich schätzen, dass ihr einander habt. Verhaltet euch dementsprechend.« Damit verließ sie die Küche.
Kurz darauf hörten sie, wie oben eine Tür zuschlug.
»Hör mal, Nina«, sagte Meredith nach einer Weile. »Ihre Märchen sind mir vollkommen egal. Ich kümmere mich um sie, weil ich es Dad versprochen habe und weil es sich so gehört. Aber was du vorhast – sie kennenzulernen –, ist eine Kamikaze-Aktion und die ist mir einmal zu oft missglückt. Also halt mich da raus.«
»Meinst du, ich wüsste das nicht?«, fragte Nina. »Ich bin deine Schwester, ich weiß, wie oft du es bei ihr versucht hast.«
Abrupt wandte sich Meredith zum Herd und attackierte den durchgeschmorten Topf, als läge ein Schatz darunter.
Nina trat zu ihr. »Ich verstehe, warum du sie in dieses grässliche Heim gesteckt hast.«
Meredith drehte sich um. »Wirklich?«
»Na klar. Du dachtest, sie dreht durch.«
»Sie dreht auch durch.«
Nina
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