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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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studieren.«
    Ihre Mutter hockt sich auf ihre Fersen und sieht Vera an. Im goldenen Abendlicht wirkt sie fast schon wieder hübsch. Nur ihre braunen Augen wirken noch alt und müde. »Du lebst im Schneereich«, sagt sie.
    »Das weiß ich doch.«
    »Wirklich? Du arbeitest in der größten Bibliothek der Welt – hast täglich drei Millionen Bücher zur Hand. Das königliche Museum liegt auf deinem Heimweg. Dort arbeitet deine Schwester. Du kannst jederzeit die Gemälde der Alten Meister ansehen. Galina Ulanowa tanzt in dieser Saison, außerdem gibt es noch die Oper.« Missbilligend schnalzt sie mit der Zunge. »Erzähl mir nicht, in diesem Reich müsste eine junge Frau zur Universität gehen, um etwas zu lernen. Wenn du das wirklich glaubst, dann bist du nicht« – nun senkt sie die Stimme – »seine Tochter.« Zum ersten Mal erwähnt ihre Mutter ihren Vater, und es verfehlt nicht seine Wirkung.
    Vera lässt sich auf die warme Erde sinken und blickt auf die zarte grüne Rosette eines winzigen Kohlkopfs neben sich.
    Ich bin die Tochter von Pjotr Andrejewitsch , denkt sie und dabei erinnert sie sich an die Bücher, die ihr Vater ihr abends vorlas, und die Träume, zu denen er sie ermutigte.
    Den Rest der Woche denkt Vera über das Gespräch auf dem Feld nach. Bei der Arbeit durchmisst sie die ganze Bibliothek, streift durch die Stapel von Büchern, begleitet vom Geist ihres Vaters. Sie weiß, dass sie nur jemanden braucht, der ihr hilft, das Gelesene zu verstehen. Sie fühlt sich wie ein junges Pflänzchen mit einem zarten Stängel, dem die Erde den Zugang nach oben erschwert. Aber da oben ist die Sonne, wenn man nur immer weiterwächst.
    Eines Tages dann ordnet sie gerade Pergamentrollen am Empfangstisch, als sie ein vertrautes Gesicht sieht. Ein alter Mann schreitet mit einem Gehstock über den Marmorboden, und sein verschlissener brauner Talar schleift hinter ihm her. Er lässt sich an einem Tisch an der Wand nieder und schlägt ein Buch auf.
    Langsam nähert sich Vera ihm, weil sie weiß, ihre Mutter würde ihren Plan nicht billigen. Aber sie hat auf einmal einen Plan.
    »Verzeihung«, sagt sie leise zu dem Mann, der aufblickt und sie mit seinen wässrigen Augen ansieht.
    »Veronika?«, fragt er nach längerem Nachdenken.
    »Ja«, antwortet sie. In früheren, besseren Zeiten hat dieser Mann sie oft besucht. Sie erwähnt ihren Vater nicht, dennoch ist er plötzlich so deutlich spürbar wie der Staub um sie herum. »Verzeihen Sie, dass ich Sie belästige, aber ich suche einen Lehrer. Allerdings habe ich nicht viel Geld.«
    Der Geistliche nimmt seine Brille ab. Eine Weile sagt er nichts, und als er zu sprechen ansetzt, ist es kaum mehr als ein Flüstern. »Ich persönlich kann dir nicht helfen. Wegen der Zeiten, in denen wir leben. Ich sollte eigentlich auch nicht mehr schreiben.« Er seufzt. »Wenn das so einfach wäre … aber ich kenne ein paar Studenten, die vielleicht weniger Angst haben als ein alter Mann. Ich werde sie fragen.«
    »Danke.«
    »Sei vorsichtig, kleine Veronika«, sagt er und setzt die Brille wieder auf. »Und erzähl niemandem von diesem Gespräch.«
    »Unser Geheimnis ist bei mir sicher.«
    Der Geistliche sieht sie ernst an. »Kein Geheimnis ist sicher.«

Vierzehn
    Es war fast Mitternacht, als Meredith nach Hause kam. Erschöpft von dem langen Tag und noch gefangen von der Geschichte dieses Abends, fütterte sie die Hunde, spielte ein Weilchen mit ihnen und zog sich dann etwas Bequemes an. Sie war gerade in der Küche und kochte sich einen Tee, als ein Wagen vorfuhr.
    Jeff. Wer sonst sollte um halb eins auftauchen?
    Mit wild klopfendem Herzen stand sie da und umkrallte den Rand der Spüle, als die Haustür aufging.
    Aber es war Nina, die mit leicht verärgerter Miene in die Küche kam.
    Meredith spürte, wie Enttäuschung sie überwältigte. »Was machst du hier? Es ist nach Mitternacht«, sagte sie.
    Wortlos ging Nina zur Küchentheke, griff nach einer Flasche Wein, nahm zwei Kaffeebecher aus dem Spülbecken, spülte sie aus und füllte sie mit Wein. »Tja, eigentlich würde ich gerne über die Geschichte sprechen, die für ein Märchen verdammt faktenreich ist, aber da du davor ja zu viel Angst hast, werde ich dir sagen, warum ich gekommen bin. Wir müssen reden.«
    »Morgen –«
    »Nein, jetzt. Morgen wirst du dich wieder verschanzen, und ich werde durch deine Tüchtigkeit eingeschüchtert sein. Los.« Damit nahm sie Meredith beim Arm und führte sie ins Wohnzimmer, wo sie mit einem

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