Ein Garten im Winter
ist fort.«
»Was soll das heißen?«, fragt Olga. »Fort? Glaubst du, er ist geflohen?«
Nicht sie, sondern Mama ist stark genug, den Kopf zu schütteln. »Nein, er ist nicht geflohen.« Sie sieht sich noch einmal um und tritt dann näher an sie heran, so dass sie dicht aneinandergedrängt im Schatten der Statue stehen. »Sie haben ihn umgebracht.«
Olga gibt einen herzzerreißenden Laut von sich, als würde sie ersticken, und Vera und Mama umarmen sie fest. Als sie sich zurückziehen, weinen alle drei.
»Du wusstest es«, sagt Vera und macht sich nicht mehr die Mühe, ihre Tränen abzuwischen, obwohl sie sofort gefrieren und ihre Wimpern verkleben, bis sie kaum noch sehen kann.
Die Mutter nickt.
»Schon als sie ihn abholten?«
Wieder nickt sie.
»Aber du hast mich jeden Freitag dorthin gehen lassen«, sagt Vera. »Wenn ich das gewusst hätte –«
»Du musstest es auf deine Weise erfahren«, sagt ihre Mutter. »Außerdem hab ich natürlich … gehofft.«
»Was soll ich jetzt tun?«, fragt Vera. Sie fühlt sich wie abgeschnitten, von sich selbst und ihrem eigenen Leben.
»Ich habe darauf gewartet, dass du mich das fragst«, sagt Mama. »Ihr beide habt gewartet und gehofft. Aber jetzt wisst ihr: Dies ist von nun an euer Leben. Unser Petja wird nicht zurückkommen. Dies ist es nun.«
»Was meinst du damit?«, fragt Olga.
»Das Leben«, sagt Mama leise.
Vera begreift, es ist Zeit, dass sie aufhört, zu warten. Sie muss etwas tun.
»Ich weiß nicht, was ich erträumen soll«, sagt Vera. »Mir scheint alles unmöglich.«
»Träume sind etwas für Menschen wie deinen Vater. Deshalb müssen wir jetzt allein und insgeheim um ihn trauern, als wären wir Verbrecher. Er hat euch alle möglichen Hirngespinste eingegeben. Aber die müsst ihr aufgeben. Ihr seid keine Kinder mehr. Werdet zu Frauen dieses Reichs. Es warten Aufgaben auf euch; das verspreche ich euch.«
Ihre Mutter umarmt sie heftig und küsst sie auf die Wangen. Als sie ganz nahe beieinander stehen, flüstert sie: »Er hat euch mehr geliebt als sein Leben. Das wird nie vergehen.«
»Ich vermisse ihn«, sagt Olga und fängt wieder an zu weinen.
»Ja«, sagt Mama mit gebrochener Stimme. »Wir werden von nun an immer einen leeren Platz an unserem Tisch haben.« Schließlich löst sie sich von ihnen. »Aber jetzt wollen wir nicht mehr von ihm sprechen. Nie mehr. Nicht mal, wenn wir unter uns sind.«
»Aber … man kann doch nicht einfach aufhören, etwas zu fühlen«, sagt Vera.
»Vielleicht«, erwidert ihre Mutter, »aber man kann aufhören, Gefühle auszudrücken, und genau das werden wir tun.« Sie steckt ihre Hand in die große Tasche ihres Wollmantels und holt einen Cloisonné-Schmetterling hervor.
Etwas so Schönes hat Vera noch nie gesehen. So etwas gehört nicht in den Besitz einer Familie wie der ihren. So etwas passt zu Königen oder zumindest zu Zauberern.
»Pjotrs Vater hat den gemacht«, erzählt ihre Mutter und erzählt ihnen damit etwas ganz Neues. »Er war für die kleine Prinzessin gedacht, aber dem König gefiel er nicht, daher wurde euer Großvater entlassen und stellte nicht mehr solche Artefakte her, sondern Ziegelsteine. Euer Vater bekam diesen Schmetterling zu unserer Hochzeit geschenkt. Nun soll er uns dazu dienen, uns an das Familienmitglied zu erinnern, das wir verloren haben. Manchmal, wenn ich ihn in der Hand halte und die Augen schließe, kann ich unseren Petja lachen hören.«
»Es ist doch nur ein Schmetterling«, meint Vera und findet ihn auf einmal gar nicht mehr so schön. Ganz sicher ist er kein Ersatz für das Lachen ihres Vaters.
»Mehr ist uns nicht geblieben«, erwidert ihre Mutter sanft.
Vera vergräbt sich in ihrer Trauer, wie nur eine Halbwüchsige es kann, aber als der Winter vergeht und der Frühling im Königreich erwacht, empfindet sie ihre Traurigkeit als Last.
»Es ist ungerecht, dass ich nicht studieren darf«, beklagt sie sich eines schönes Sommertags, viele Monate nach ihrer dürftigen Trauerfeier im Park. Ihre Mutter und sie sind in ihrem kleinen Garten und zupfen auf Knien Unkraut. Beide haben schon einen Arbeitstag in der Stadt hinter sich. Ihre Sommerroutine besteht darin, den ganzen Tag zu arbeiten und dann die Stadtmauern zu verlassen und zwei Stunden mit dem Pferdewagen aufs Land zu fahren, wo sie ein kleines Feld gepachtet haben.
»Du bist zu alt, um über so etwas zu jammern, und das weißt du auch«, entgegnet ihre Mutter.
»Ich möchte die großen Dichter und Künstler
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