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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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mal die berechtigten Fragen einer trauernden Familie. Sie dürfen nicht darum bitten, ihn zu beerdigen, sein Grab zu besuchen oder seine Leiche für das Begräbnis anzukleiden. All das würde nur Aufmerksamkeit wecken, auf sie und auf die Exekution, die der Schwarze Ritter leugnen will. In der Bibliothek macht Vera sich direkt an die Arbeit und sagt nichts über ihren Vater.
    Auf dem Heimweg – den sie zu Fuß zurücklegt, weil sie sich fürchtet, zu Hause anzukommen – scheint es, als würde der Winter persönlich aus dem Boden dringen. Welke schwarze Blätter fallen von den Bäumen und bleiben mitten in der eisigen Luft hängen. Es sind so viele, dass es aus der Ferne aussieht, als würde ein Schwarm Krähen zu tief fliegen. Ein bleigrauer Himmel drückt auf die Häuser, die farblos und geduckt wirken. Selbst das mintgrüne Schloss wirkt in diesem Licht trist.
    Als sie zu Hause ankommt, sind das Kopfsteinpflaster und die Baumscheiben schon von einer dichten Schneedecke umgeben.
    Am Eingang zögert Vera kurz, um sich zu fassen. Sie stellt sich vor, was sie gleich sagen muss, und spürt, wie Erschöpfung sie niederdrückt. Dennoch rafft sie sich auf und geht ins Haus.
    Die Wohnung ist vollgestopft mit den Möbeln aus ihrem alten Leben. Das Bett ihrer Großmutter ist an die Wand geschoben und mit Decken überhäuft. Ihr eigenes, schmaleres Bett verstellt den Schrank, so dass sie es beiseiterücken müssen, wenn sie etwas herausnehmen wollen. Vor dem Fenster, das sich nicht öffnen lässt, stehen ein Tisch, den ihre Mutter eigenhändig gestrichen hat, und zwei Lampen. Das einzig schöne Möbelstück in der ganzen Wohnung – ein prächtiger Mahagoni-Schreibtisch von ihrem Vater – ist jetzt mit Gläsern voll eingemachter Gurken und Zwiebeln vollgestellt.
    Ihre Mutter sitzt am Ofen. Olga ist am Tisch und schält Kartoffeln.
    Ihre Mutter wirft nur einen Blick auf sie, dann schiebt sie den Topf vom Ofen und wischt sich die Hände an der Schürze ab. Obwohl ihr Kleid alt und unförmig ist und ihre Haare nach einem Arbeitstag im Nahrungsmittellager unordentlich sind, blicken ihre Augen klar und wissend. »Es ist Freitag«, sagt sie schließlich.
    Olga steht auf. In ihrem zu engen Kleid sieht sie aus wie eine Blume, die aus einer Samenhülle sprießt. Unwillkürlich denkt Vera, dass ihre Schwester mit fünfzehn noch ein Kind ist, dabei erinnert sie sich, dass sie genauso alt war, als sie Sascha traf. Damals dachte sie, sie sei erwachsen. Eine Frau, die mit dem Mann ihres Herzens auf einer Brücke stand.
    »Hast du was erfahren?«, fragt Olga.
    Vera spürt, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht weicht.
    »Komm schon, Olga«, sagt Mama energisch. »Zieh deinen Mantel und deine Stiefel an. Wir gehen spazieren.«
    »Aber meine Stiefel sind mir zu klein geworden«, jammert Olga. »Außerdem schneit es.«
    »Das macht nichts«, antwortet ihre Mutter und geht zu der großen runden Truhe aus Holz und Leder, die an ihrem Bett steht. »Deine Großmutter kommt gleich von der Arbeit nach Hause.«
    Vera tritt einen Schritt zurück und sieht wortlos zu, wie ihre Mutter und ihre Schwester sich gegen die Kälte rüsten. Als alle fertig sind, treten sie hinaus in die verschwommene weiße Welt. Das Schneegestöber dämpft alle Geräusche um sie herum. Selbst das Quietschen und Klappern der Bahn klingt leiser. In dieser stillen Welt fühlen sie sich isoliert, von allem abgeschnitten. Als sie den großen Park betreten, sind sie noch einsamer. Mittlerweile leuchten alle Laternen rund ums Karree. Man sieht keine Menschen an diesem eisigen frühen Abend, nur die golden leuchtende Reihe der hochherrschaftlichen Häuser in der Ferne.
    Sie kommen zum Zentrum des Parks, zu der riesigen Bronzestatue eines geflügelten Pferds. Es steigt trotzig aus dem Schnee in die Höhe und lässt alles neben sich winzig erscheinen.
    »Wir leben in gefährlichen Zeiten«, sagt Mama, als sie vor der Statue stehen. »Es gibt Dinge … und Menschen, von denen man nicht mal im Schutz einer Wohnung und unter Freunden sprechen darf. Aber wir werden davon sprechen …« Sie verstummt, holt tief Luft und als sie weiterredet, klingt ihre Stimme sanft. »Wir werden von ihm sprechen … einmal und dann nie wieder. Einverstanden?«
    Olga stampft mit ihren Füßen im Schnee. »Was ist denn los?«
    Mama sieht Vera auffordernd an.
    »Ich bin heute zur Großen Halle gegangen, um nach Papa zu fragen«, antwortet Vera und spürt, wie ihr die Tränen in den Augen brennen. »Er

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