Ein Garten im Winter
Gras und bemerkte einen Moment zu spät, dass es rutschig war. Es geschah alles sekundenschnell: Sie stolperte über einen Stein, verlor das Gleichgewicht, versuchte es wiederzugewinnen, und plötzlich segelte die Kiste durch die Luft. Sie krachte auf eine der Kupfersäulen und zerbrach.
Nina schlug so hart auf dem Boden auf, dass sie Blut in ihrem Mund schmeckte. Benommen lag sie da und hörte, dass Meredith immer wieder O nein, o nein sagte.
Dann zog ihre Mutter sie hoch und sagte etwas auf Russisch. Sie hatte sie noch niemals so sanft sprechen hören.
»Ich hab sie fallen lassen«, sagte Nina, wischte sich übers Gesicht und verschmierte dabei Erde über ihre Wange. Der Gedanke an ihre Unachtsamkeit trieb ihr die Tränen in die Augen.
»Wein doch nicht«, bat die Mutter. »Überleg mal: Wenn er da wäre, würde er jetzt sagen: ›Was zum Teufel hast du dir gedacht, Anja? Wolltest du warten, bis es dunkel ist?‹«
Dabei lächelte sie, wahrhaftig.
»Wir werden es Aschewurf nennen«, bemerkte Meredith, und ihre Mundwinkel zuckten.
»Manche Familien verstreuen sie. Wir werfen sie«, bestätigte Nina.
Ihre Mutter lachte als Erste. Das war so ungewohnt, dass Nina der Atem stockte. Dann lachte sie auch los.
Da standen sie, mitten im Wintergarten, umringt von blühenden Apfelbäumen und lachten zusammen. Einen besseren Tribut hätten sie ihm nicht zollen können. Später, als die Mutter und Meredith schon ins Haus gegangen waren, blieb Nina allein zurück und starrte in der Stille des Abends auf eine samtig weiße Magnolienblüte mit grauem Aschefilm. »Hast du uns lachen hören? Das haben wir noch nie gemacht, nicht wir drei zusammen. Wir haben für dich gelacht, Dad …«
Sie hätte schwören können, dass er bei ihr war, dass sie seinen Atem im Wind hörte. Sie wusste, was er jetzt zu ihr gesagt hätte: »Guter Flug, Neener Beaner. Saubere Landung .« »Ich hab dich lieb, Dad«, flüsterte sie, als der Wind eine einzelne Apfelblüte zu ihr trieb und zu ihren Füßen landen ließ.
Meredith nahm das Hühnchen à la Kiew aus dem Ofen und stellte es zum Abkühlen auf die kalte Herdplatte.
Sie trocknete sich die Hände ab, holte tief Luft und ging ins Wohnzimmer zu ihrer Mutter. »Hey«, sagte sie und setzte sich neben sie aufs Sofa.
Der tieftraurige Blick ihrer Mutter erschütterte sie.
Einen Moment lang fühlte sie sich so verbunden mit ihr, dass sie ihre Hand berührte.
Und dieses eine Mal zog ihre Mutter sie nicht weg.
Meredith wollte etwas sagen – irgendetwas, das ihren Schmerz linderte, doch natürlich gab es dafür keine Worte.
»Wir sollten jetzt essen«, meinte sie schließlich. »Hol deine Schwester.«
Meredith nickte und ging hinaus in den Wintergarten, wo Nina eine aschegraue Magnolienblüte fotografierte.
Sie setzte sich neben sie auf die Bank. Der bronzefarbene Himmel war so dunkel geworden, dass sie nur noch die weißen Blüten sahen, die im schwindenden Licht silbrig leuchteten.
»Wie fühlst du dich?«
»Beschissen. Und du?«
Nina drückte die Schutzkappe auf die Linse. »Mir ging’s schon besser. Wie geht’s Mom?«
Meredith zuckte mit den Schultern. »Wer weiß?«
»Aber in letzter Zeit ging’s ihr besser. Ich glaube, es liegt am Märchen.«
»Wenn du meinst«, seufzte Meredith. »Aber wie zum Teufel können wir da sicher sein? Ich wünschte, wir könnten richtig mit ihr reden.«
»Eigentlich hat sie nie wirklich mit uns geredet. Wir wissen noch nicht mal, wie alt sie ist.«
»Warum fanden wir das als Kinder eigentlich nicht komisch?«
»Ich schätze, weil wir damit aufgewachsen sind. Wie diese verwilderten Kinder, die sich wirklich für Wölfe halten.«
»Nur du bringst es fertig, uns mit Wolfskindern zu vergleichen«, sagte Meredith. »Jetzt komm.«
Als sie wieder ins Haus kamen, saß ihre Mom am Tisch, und das Essen war aufgetragen. Hühnchen à la Kiew mit Kartoffelgratin und grünem Salat. In der Mitte des Tischs standen drei Schnapsgläser und die Karaffe Wodka.
»Das ist ein Tafelaufsatz nach meinem Geschmack«, bemerkte Nina und setzte sich, während die Mutter den Wodka ausschenkte.
Meredith nahm neben ihrer Schwester Platz.
»Einen Toast.« Die Mutter hob ihr Glas.
Einen Augenblick lang schwiegen sie verlegen und sahen sich an. Meredith wusste, dass sie alle darüber nachdachten, was sie sagen sollten, wie sie ihren Dad ehren sollten, ohne noch mehr Schmerz und Trauer hervorzurufen. Denn das hätte er nicht gewollt.
»Auf unseren Evan«, sagte die Mutter
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