Ein Garten im Winter
fühlten sich ähnlich. Während der Tag verstrich und in die Nacht überging und dann wieder ein neuer Tag anbrach, sah Nina sich nicht mal in der Lage, auch nur an das Märchen zu denken.
Der Geburtstag ihres Vaters rückte näher.
Der Himmel war blau, und die Sonne schien, als es so weit war.
Nina schob die Decke beiseite und kletterte aus dem Bett. Heute war der Tag, weswegen sie gekommen war. Natürlich hatte keine von ihnen ein Wort darüber verloren – sie sprachen nicht über ihren Schmerz –, dennoch hatte es immer zwischen ihnen in der Luft gehangen.
Sie ging zum Fenster ihres Zimmers und blickte hinaus. Die Apfelbäume schienen zu tanzen. Millionen von grünen Blättern und weißen Blüten leuchteten im Licht.
Sie griff nach ihren Kleidern, die auf einem Haufen auf dem Boden lagen, zog sich rasch an und verließ das Schlafzimmer. Sie wusste nicht genau, was sie an diesem heiklen Tag zu ihrer Mutter sagen sollte, sie wusste nur, dass sie nicht allein sein wollte mit ihren Gedanken und Erinnerungen.
Sie durchquerte den Flur und klopfte an die Schlafzimmertür ihrer Mutter. »Bist du schon auf?«
»Ich sehe dich und Meredith bei Sonnenuntergang«, sagte ihre Mutter nur.
Enttäuscht ging Nina nach unten in die Küche. Nach einem kurzen Frühstück lief sie zu Merediths Haus, fand dort aber nur die Hunde vor, die in der Sonne auf der Veranda dösten. Natürlich war Meredith arbeiten gegangen.
»Scheiße.«
Da sie den Geburtstag ihres Vaters auf keinen Fall allein in dem stillen Haus verbringen wollte, kehrte sie nur nach Belije Notschi zurück, um sich die Wagenschlüssel vom Flurtisch zu holen, und fuhr dann in die Stadt, um sich bis Sonnenuntergang zu beschäftigen. Auf dem Weg hielt sie hier und dort, um ein paar Fotos zu schießen, und mittags führte sie sich im Diner auf der Main Street amerikanisches Fast Food zu Gemüte.
Vor Ende des Tages war sie jedoch wieder in Belije Notschi. Sie hängte sich die Fototasche über die Schulter und ging ins Haus, wo Meredith bereits in der Küche wartete und etwas in den Ofen schob.
»Hey«, begrüßte Nina sie.
Meredith drehte sich zu ihr um. »Ich hab Abendessen gemacht. Und den Tisch gedeckt. Ich dachte, wir könnten … danach …«
»Klar«, sagte Nina, ging zur Flügeltür und blickte hinaus. »Wie gehen wir vor?«
Meredith kam zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich dachte, wir öffnen einfach den Deckel von der Urne und verstreuen die Asche. Vielleicht könntest du ein paar Worte sagen.«
»Das ist doch eher deine Aufgabe, Mere. Ich hab ihn doch im Stich gelassen.«
»Er hat dich sehr geliebt«, erwiderte Meredith. »Und er war sehr stolz auf dich.«
Nina spürte, wie ihr die Tränen kamen. Draußen spannte der Himmel lachsrosa und lavendelfarbene Bänder über die Apfelplantage. »Danke«, sagte sie und lehnte sich an ihre Schwester. Gemeinsam standen sie da, ohne etwas zu sagen, und verloren jegliches Zeitgefühl.
»Es ist so weit«, bemerkte die Mutter, die irgendwann hinter ihnen aufgetaucht war.
Nina löste sich von Meredith und wappnete sich gegen das Kommende. Sie und ihre Schwester drehten sich gleichzeitig um.
Auf der Türschwelle stand ihre Mom mit einer Rosenholzkiste mit Elfenbeinintarsien. Mit einer purpurfarbenen Chiffonbluse und einer kanariengelben Leinenhose sah sie völlig anders aus als sonst. Um ihren Hals war ein rotblauer Schal geschlungen.
»Er mochte Farben«, erklärte sie. »Ich hätte mehr Farben tragen sollen …« Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und blickte aus dem Fenster auf die untergehende Sonne. Dann holte sie tief Luft und trat zu ihnen. »Hier«, sagte sie und hielt Nina die Kiste entgegen.
Es war nur eine Kiste mit Asche und nicht ihr Dad, nicht mal alles, was von ihm geblieben war. Doch als sie die Kiste von ihrer Mutter entgegennahm, überwältigte sie die Trauer, die sie hatte unterdrücken wollen.
Sie hörte, wie ihre Mom und Meredith die Küche verließen und durchs Esszimmer gingen. Langsam folgte sie ihnen.
Durch die offene Flügeltür kam eine kühle Brise, strich ihr über die Wangen und brachte den Duft von Äpfeln ins Haus.
»Komm, Nina«, rief Meredith von draußen.
Nina rückte den Riemen des Fotoapparats zurecht und ging in den Garten.
Meredith und ihre Mutter standen bereits an der schmiedeeisernen Bank unter der Magnolie. Die letzten Sonnenstrahlen fielen auf die neue Kupfersäule und ließen sie flammenfarben aufleuchten.
Nina lief rasch über das
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