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Ein Garten mit Elbblick (German Edition)

Ein Garten mit Elbblick (German Edition)

Titel: Ein Garten mit Elbblick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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mit Augen, die nach Aufregung gierten. Die meisten Gestalten glichen einander, alle verschwammen ihm zu einer grauen Masse. Leute, die um diese Stunde unterwegs waren, gehörten zumeist ins Souterrain oder in Dienstbotenkammern, selbst die Kleider der jungen Frauen, denen das Leben die Hoffnung und die Eitelkeit noch nicht ausgetrieben hatte, waren braun, blau, grau. Dazwischen schimmerte mal eine weiße Bluse oder Schürze, mal ein farbiges Schultertuch, ein hellerer Strohhut. Vielleicht bemerkte er nur deshalb trotz seines flüchtigen und abwehrenden Blickes bei der Laterne die Frau im dunkelroten Kleid. Sie stand in der ersten Reihe gleich hinter den Polizisten und hielt eine große, fast quadratische graue Mappe mit beiden Armen umfangen und an ihre Brust gepresst. Später würde ihm einfallen, dass sie dunkles Haar gehabt und keinen Hut getragen hatte, obwohl ihr schmales, fein geschnittenes Gesicht vornehm wirkte. Hinter ihr, höchstens einen halben Schritt weiter, stand ein in gutes hellgraues Tuch gekleideter Mann, sein Gesicht wiederum war von einem Hut beschattet. Zwischen beiden stand ein Halbwüchsiger mit auffallend schadhaften Zähnen. Ekhoff nahm das mit seinem kurzen Blick in die Runde wahr, und wie so oft verschwand das Bild in einer Ecke seines Gedächtnisses, um einige Stunden später, wenn er in Ruhe über alles nachdachte, plötzlich deutlich wieder aufzutauchen.
    Er beugte sich wieder über den Toten. Als ein Kind heulend aufschrie, zuckte er zusammen und sprang auf. Das fehlte noch an diesem Tag, dass hier ein Kind unter die Räder kam, womöglich ausgerechnet unter die des Leichenwagens – aber nichts war passiert, als dass ein Knirps, der kaum über die Tischkante gucken konnte, beim Stehlen erwischt worden war.
    Hoffentlich gab der Mann, der den Jungen wegzerrte, ihm nur eins hinter die Ohren und schleppte ihn nicht gleich auf die Wache.
    Dann nahm der Leichenwagen die Sicht, der Kutscher zog die Bremse an und schlang die Zügel um den Knauf. In drei Minuten würde er eingedöst sein.
    Endlich konnte Ekhoff sich dem unbekannten Toten am Brunnen ganz widmen. Sein Herzschlag hatte sich beruhigt, und er fühlte sich stolz und kompetent.

[zur Inhaltsübersicht]
    Kapitel 2
    Dienstag, mittags
    E ine Stunde weiter flussabwärts war wenige Tage zuvor ein anderer Mann gestorben, allerdings friedlich in seinem Bett und in fortgeschrittenem Alter. Zu Grabe getragen wurde Sophus Mommsen, Henrietta Winfields Vater, an einem dieser schönen Julitage, die besser zu einer Taufe oder Hochzeit passen als zu einer Beerdigung. Über den tiefblauen Himmel zogen pompöse weiße Wolkenschiffe, leichter Wind milderte die Sommerwärme, und in den Gärten duftete es nach Rosen. Es war auch einer dieser Tage, die Mommsen, mit sich und seiner Welt zufrieden, am liebsten unter der Markise auf seiner Terrasse verbracht hatte, mit einer Zigarre und einem Glas weißen Bordeaux, auf dem Tisch Zeitungen und ein Stapel Bücher. Ab und zu hatte er dann die Lektüre sinken lassen und über den Garten und den breiten Fluss geblickt und gedacht, womöglich sogar gemurmelt, das Leben sei recht angenehm, wenn man verstehe, es zu genießen. Er hatte nach seiner Hausdame geklingelt, die er nie Alma, sondern stets korrekt Frau Lindner genannt hatte, ihr diesen Gedanken mitgeteilt und nach dem Plan für das Abendessen gefragt. Auch ob Gäste erwartet wurden, denn er hatte sich gern ein wenig vergesslich gegeben. Er hatte es genossen, wenn jemand anderes für ihn die Banalitäten des Alltags organisierte. Sogar seine Beerdigung. Obwohl die selbst Mommsen, dem es gerade in erheblichen Dingen hin und wieder an Ernsthaftigkeit mangelte, kaum zu den Banalitäten gezählt hätte.
    Als Privatier hatte er keine in der Welt bedeutende Position, somit keine Macht zu vererben gehabt. Niemand nahm an, seine irdischen Güter könnten über die kleine Villa, das weitläufige Gartengrundstück am Elbhang und einige recht manierliche, allen Krisen trotzende Wertpapierpakete hinausgehen. Von dem einen oder anderen kleinen Legat abgesehen, konnte ihn nur seine im Ausland lebende Tochter beerben, von anderen Verwandten in gerader Linie war nichts bekannt. Wenn er von der ‹lieben Familie› gesprochen hatte, hatte er die Grootmanns gemeint, mit denen seine Frau verwandt gewesen war.
    Für einen solchen Mann hatte sich eine angemessene Trauergemeinde in Nienstedten an der Elbchaussee zusammengefunden. An der Auffahrt zur Kirche und zum nahen Friedhof

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