Ein Gebet für die Verdammten
hatten sie als gesetzmäßig verheiratetes Paar gegolten und gemeinsam ihre Wohn- und Schlafgemächer genutzt. Jetzt aber mußte dem alten Brauch Genüge getan werden. Gestern hatten sie sich formell getrennt, und ihre Ehe auf Probe war zu Ende gegangen. Sie würden erst wieder die Zimmer teilen können, wenn der Heiratskontrakt erneut unterzeichnet war, wie die Gesetzgebung des
lánamnus
es vorschrieb. Sie überlegte, ob sie Eadulf wecken sollte, verwarf aber sogleich den Gedanken. Welches Problem auch immer ihren Bruder bewogen hatte, sie mitten in der Nacht holen zu lassen, er hatte zu entscheiden, ob Eadulf hinzugezogen werden sollte oder nicht.
Sie eilte durch die Gänge, die zum Privatgemach ihres Bruders führten. Wie üblich hielten zwei Krieger im Vorzimmer Tag und Nacht Wache. Sobald sie hereinkam, ging einer von ihnen zur inneren Tür, klopfte an und öffnete sie. Sie trat ein, und die Tür schloß sich hinter ihr.
Colgú kam ihr entgegen und begrüßte sie mit besorgter Miene. Mit raschem Blick nahm sie wahr, daß Brehon Baithen sich von seinem Sitz erheben wollte. Sie bedeutete ihm, sitzen zu bleiben.
»Ein Mord ist geschehen«, stieß er hervor, während er sie mit einer Handbewegung aufforderte, am Kamin Platz zu nehmen.
Fidelma beherrschte ihre Gesichtszüge.
»Wer ist das Opfer?« erkundigte sie sich ruhig und setzte sich.
»Abt Ultán.«
Nur ein Lidschlag verriet, daß sie die Nachricht erfaßt hatte. Schon malte sie sich die möglichen Folgen aus. Der Ermordetewar nicht nur ein Sendbote des Nachfolgers des heiligen Patrick in Ard Macha, sondern auch ein Gast aus dem Königreich Ulaidh im Norden. Das waren Umstände von weittragender Bedeutung.
Colgú wandte sich an seinen Richter. »Erzähl ihr, was sich zugetragen hat.«
Brehon Baithen machte eine hilflose Geste. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Abt Ultán wurde in seinem Gemach niedergestochen, vor kurzem erst.«
»Und der Übeltäter?« erkundigte sich Fidelma. »Weiß man, wer es war? Mann oder Frau?«
Der Richter holte tief Luft und nickte. »Es war der reine Zufall, daß wir es gesehen haben. Caol und ich waren auf dem Weg zu Ultán, worauf wir uns abends hier geeinigt hatten. Gerade als wir in den Gang einbogen, der zu seinem Gemach führt, kam der Schuldige heraus …« Er machte eine dramatische Pause.
Fidelma faßte sich in Geduld.
Da Baithen spürte, daß sie keine Zwischenfrage stellen würde und auf seine Enthüllung wartete, verkündete er: »Es war Muirchertach Nár von den Uí Fiachracha.«
Als der Name fiel, runzelte Fidelma bekümmert die Stirn. »Der König von Connacht. Bist du dir dessen ganz sicher?«
Brehon Baithen schaute gequält drein. »Noch ist mein Sehvermögen tadellos, und Caols ebenfalls. Da gibt es nichts zu deuteln, es war Muirchertach Nár! Wir ließen den betagten Bruder Conchobhar holen, und nachdem der den Leichnam untersucht hatte, sind wir schnurstracks in die Gemächer des Königs von Connacht gestürmt.«
Fidelma blickte erstaunt auf. »Und?«
»Wir verlangten eine Erklärung. Wir hätten ihn in aller Hast aus dem Zimmer kommen sehen.«
»Was hat er darauf erwidert?«
Der Richter zuckte ein wenig mit den Schultern. »Eben das, was man von einem so hochgestellten Adligen erwarten konnte. Er würde weder eine Erklärung abgeben noch eine Aussage machen, außer der, daß er für den Tod von Abt Ultán nicht verantwortlich sei.«
»Das klingt nicht gut«, ließ sich Colgú vernehmen, dessen angenehmes Gesicht plötzlich gramzerfurcht wirkte. »Ein Abt, der dazu ein Abgesandter von Ard Macha ist, wird getötet; der König von Connacht wird der Tat beschuldigt, und das just an dem Tag, an dem die Fürsten der fünf Königreiche sich hier versammelt haben, um deiner Hochzeit beizuwohnen. An Verdächtigungen und Spekulationen wird es nicht fehlen, bis dieser Vorfall geklärt ist.«
Man mußte Fidelma nicht erklären, warum ihr Bruder so besorgt war, aber weshalb er sie mitten in der Nacht hatte holen lassen, begriff sie nicht, und das sagte sie ihm auch.
Colgú fühlte sich unbehaglich in seiner Haut. Hilfesuchend schaute er zu Baithen. Der Richter von Muman räusperte sich, ehe er zu reden anhub.
»Wie du sehr wohl weißt, Lady, genießt ein König gewisse Privilegien …« Er zögerte. »Muirchertach hat … Er hat sich auf das Recht berufen, sich selbst den Anwalt zu wählen, der seine Unschuld beweist.«
Fidelma war bemüht, Fassung zu wahren. Sie ahnte, was kommen würde. »Heute
Weitere Kostenlose Bücher