Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Weise Maxime und Tania, meine Eltern, die ich soeben erst entdeckte.
Maxime und Hannah heiraten an einem schönen Sommertag, am Himmel zeichnet sich nichts Bedrohliches ab. Nachdem sie sich auf dem Standesamt ins Standesregister eingetragen haben, gehen sie in die Synagoge. Joseph freut sich, daß nun das letzte seiner drei Kinder heiratet. Die Eltern der Braut sind ebenfalls da, und mit ihnen sind Hannahs Bruder Robert und dessen Ehefrau Tania aus Lyon gekommen. Endlich lernen sie ihren Schwager Maxime kennen, von dem Hannah in ihren Briefen soviel Gutes erzählt hat. Am nächsten Tag würden sie wieder nach Hause fahren.
Zum Mittagessen haben die Eltern der Braut das Hinterzimmer einer Brasserie an der Place de la République reserviert. Ein Gang nach dem anderen wird aufgetragen, bis die Gäste das Bedürfnis haben, ihre trägen Glieder zu bewegen. Man hat ein Trio bestellt, zwei Geigen und ein Akkordeon, die die Gesellschaft jetzt wachrütteln. Auf der Tanzfläche halten Männer in dunklen Anzügen Frauen in geblümten Kleidern umschlungen, die Hitze ist vergessen, man schwebt im Rhythmus derKapelle über das gebohnerte Parkett. Massel tov! Alle beglückwünschen das junge Paar, ein Glas wird zertreten, man schwenkt Servietten, die kräftigsten unter den Männern tragen den Bräutigam auf einem Stuhl im Triumphzug durch den Saal.
Maxime hätte auf die traditionellen Feierlichkeiten zwar lieber verzichtet, aber er macht sie bereitwillig mit. Er hat dem beharrlich vorgetragenen Wunsch seiner Schwiegereltern entsprochen und einer religiösen Eheschließung zugestimmt. Seit seiner Jugend hat er sich bemüht, seine Abstammung vergessen zu machen, und er wird nicht gern an sie erinnert. Doch aus Achtung vor seiner jungen Frau und ihrer Familie beugt er sich der Tradition, lächelt allen zu, nimmt am Zeremoniell teil. Seit dem Erreichen seiner religiösen Volljährigkeit, der Bar Mizwa, die er Joseph nicht abschlagen konnte, ist er den religiösen Festen immer aus dem Weg gegangen. Der einzige Kult, dem er sich widmet, ist der seines Körpers, darauf verwendet er seine gesamte Freizeit. Am Freitagabend bei Kerzenschein zu beten und das traditionelle Sabbatmahl im Kreis der Familie einzunehmen ist für ihn völlig unvorstellbar.
Er ist fast dreißig, seine Hochzeit wird, wie er hofft, die verzweifelte Jagd nach Liebschaften beenden. Kurze Bekanntschaften, nächtliche Vergnügungen mit Frauen, deren Reize im Morgengrauen vergangen sind. Hannahs Anmut und Zartheit haben ihn betört, doch für seine Entscheidung war auch der Wohlstand seiner Schwiegereltern von Bedeutung. Er hat die Freuden desJunggesellenlebens bis zur Neige ausgekostet und spürt zum ersten Mal den Wunsch, Vater zu werden.
Hannahs Eltern steigen aus ihrem Auto, öffnen der jungen Braut die Tür, sie erscheint, das Haar von einem durchsichtigen Schleier bedeckt, mit einem Strauß frischer Blumen im Arm vor dem Rathaus. Maxime geht mit dem Zylinder in der Hand auf sie zu, um sie zu begrüßen. Sie sieht ihn an. Ihre blassen Wangen und das leichte Zittern ihrer Hände zeigen, wie aufgeregt sie ist. In der Nähe parken andere Wagen, Männer in Anzügen und Frauen in hellen Kleidern oder Kostümen steigen aus, die Hochzeitsgäste.
Maxime wartet gespannt auf die Ankunft von Robert und dessen Ehefrau Tania. Hannah hat ihm oft von ihrem Bruder erzählt, einem vorwitzigen jungen Mann. Sie hat ihm auch gestanden, wie sehr sie ihre Schwägerin bewundert, eine vollendete Sportlerin, hervorragende Schwimmerin und Turmspringerin.
Sie treffen ein: Robert ist so, wie Hannah ihn beschrieben hat, kurzes welliges Haar, ein schelmisches Lachen im Blick, aber Tania ist die schönste Frau, die Maxime je gesehen hat. Sie ist groß und schlank, trägt ein geblümtes Kleid, das schwarze Haar, von einem schmalen Haarband gebändigt, fällt in Kaskaden herab, dazu ein strahlendes Lächeln.
Soviel Schönheit bringt ihn in Bedrängnis, es verschlägt ihm den Atem, statt dem Fest ein Glanzlicht aufzusetzen, wirft sie einen dunklen Schatten darauf: Die Frau hat eine Ausstrahlung, daß es ihm das Herz bricht. Es ist seine Hochzeit, der Tag, an dem sich die Lebenswege von Hannah und ihm vereinen, da trifft ihn derBlitz wie aus heiterem Himmel. Er sucht nach dem Blick seiner künftigen Ehefrau und führt sie ins Rathaus. Von der Begegnung mit Tania aufgewühlt, versucht er, sich zu beruhigen: Sicher ist es nur der in ihm schlummernde Verführer, der sich ein letztes Mal meldet.
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