Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
verschwanden. Dank Louise waren meine Brust breiter und das Loch unter dem Solarplexus kleiner geworden, als hätte sich bisher die Wahrheit dort als Hohlraum eingegraben. Ich wußte nun, was mein Vater suchte, wenn er seine Augen starr auf den Horizont richtete, ich begriff, was meine Mutter verstummen ließ. Deswegen erdrückte mich die Last des Schweigens nicht länger, ich trug sie, und sie stärkte meine Schultern. Ich schloß die Schule erfolgreich ab, und endlich leuchteten dieAugen meines Vaters, weil er stolz auf mich war. Seit ich die Gespenster benennen konnte, hatte sich ihre Umklammerung gelockert: Ich wurde ein Mann.
Einige Jahre später verlor meine Mutter durch eine Hirnblutung sowohl ihr Sprechals auch ihr Gehvermögen. Ich sah zu, wie ihre Muskeln verkümmerten, ich wurde mit dem Anblick einer abgemagerten Frau konfrontiert, die kaum wiederzuerkennen war und in einem Sessel hin- und herschaukelte. Für meinen Vater war dieses Leid noch viel grausamer als für mich. Als Kämpfernatur ging er in der ersten Zeit dagegen an und half meiner Mutter bei der Rehabilitation. Aber das Schauspiel der an Krücken gehenden Meisterschwimmerin, deren rechtes Bein bei jedem Schritt im Leeren baumelte, sollte ihm schnell unerträglich werden, und da ihn dies tiefer verletzte als alles andere, beschloß er, dem ein Ende zu machen.
Seit einigen Jahren gehörte Echo zu unserer Familie. Tagsüber wich er meinem Vater nicht von der Seite, nachts schlief er in meinem Bett. Er hatte Sim ersetzt, der mit seinem abgewetzten Plüschfell zu den verstaubten Erinnerungsstücken in unserer Abstellkammer zurückgekehrt war: Ich wußte, daß ich es jetzt, da ich seine Geschichte kannte, nicht mehr fertigbringen würde, ihm in seine blitzenden dunklen Augen zu sehen. Wie hatte mein Vater es nur ertragen können, wenn ich ihn an meine Brust drückte, wenn ich ihn bei jeder Mahlzeit neben mich auf den Stuhl setzte? Und was mochte meine Mutter empfunden haben, als sie mich den Namen des Hundes rufen hörte, den ich aus seiner Nacht hervorholte und den wiederzusehen sie zweifellos lange Zeit befürchtet hatte.
Mein Vater war ganz gerührt, wenn er seinen Hund mit dem schwarzweißen Fell an sich drückte. Er nahm Echo in den Park mit zum Spazierengehen, spielte mit ihm wie mit einem Kind, ließ ihn sonntags auf dem Stadionrasen frei laufen, wälzte sich mit ihm im Gras.
Jede freie Minute zog es mich in unseren Laden, und kaum war ich da, eilte ich durch den Flur und besuchte Louise. Unser Gespräch hatte nie aufgehört. Sie hörte mir immer zu. Wir sahen uns in die Augen, ihr Mund blies Rauchwölkchen aus, ihre Hand verjagte die alten Schmerzen.
In der Abstellkammer, in die ich hinaufgegangen war, um Sim wieder auf seine alten Decken zu legen, stieß ich unter einem verstaubten Zeitschriftenstapel auf ein Fotoalbum, das dort leicht zu übersehen war. Ich betrachtete die Hochzeitsbilder von Maxime und Hannah, ich sah meinen Vater in einem schwarzen Cutaway mit Zylinder, ich entdeckte das besorgte Gesicht seiner jungen Frau, die so blaß war wie ihr Schleier. Ihre klaren Augen, die ihren Glanz so schnell verlieren sollten, waren auf meinen Vater gerichtet. Die Albumblätter ermöglichten mir den Blick auf Familienszenen, ich sah Gruppen von Unbekannten vor sonnenbeschienenen Häusern, an Stränden oder vor Blumenbeeten posieren. Ein Leben in Schwarzweiß, lachende Gesichter, deren Lächeln heute erloschen war, Tote, die sich um die Taille faßten. Schließlich sah ich auch Simon, dessen Fotos mehrere Seiten füllten. Sein Gesicht kam mir seltsam bekannt vor. Ich erkannte mich in seinen Zügen wieder, auch wenn ich keines seiner körperlichen Merkmale an mir entdecken konnte. Ich steckte eines der Fotos ein, das sich losgelöst hatte. Auf seiner Rückseite stand ein Datum. Es zeigte Simon mit Turnhose und Trikothemd in strammer Haltung vor einem Weizenfeld; die Aufnahme stammte aus seinem letzten Sommer, und er blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne.
Kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag klingelte eines Morgens das Telefon. Nach dem Gespräch legte mein Vater mit abwesendem Blick den Hörer auf und stützte sich mit einer Hand auf den Telefonapparat. Er verkündete uns die Nachricht mit ruhiger Stimme, dann beugte er sich zu Echo hinunter, der sich vor seine Füße gelegt hatte, und streichelte ihn. Er verharrte eine Weile in dieser Haltung, seine Hand zerzauste das Fell des Hundes, und als er sich wieder aufrichtete,
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