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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Grimbert
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holte er seinen Mantel und schlüpfte hinein. Ich durfte ihn begleiten.
    Die Nachbarin, die Joseph beim Einkaufen und im Haushalt geholfen hatte, machte uns auf. Auf dem mit einem Wachstuch bedeckten Tisch standen ein leerer Teller und ein halbvolles Glas, daneben lag eine zerknitterte Serviette. Ich folgte meinem Vater ins Schlafzimmer, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Toten sah. Mein Großvater ruhte in seinem Bett, den Kopf nach hinten gelegt, mit wächsernem Gesicht und offenstehendem Mund. Mein Vater sah ihn an, dann drehte er sich zu mir um und sagte, er sei froh, daß sein Vater im Schlaf gestorben sei. Die schönste Art und Weise, die Welt zu verlassen, fügte er hinzu. Ich trat zu Joseph ans Bett und berührte mit dem Handrücken seine Wange; seine Haut war eiskalt. Welcher Traum hatte ihn fortgetragen? Ob er wußte, daß er starb?

    Wir haben Joseph auf dem Friedhof Père-Lachaise begraben. Wir gingen zum jüdischen Teil des Friedhofs,wo mein Großvater an der Seite seiner Frau ruhen sollte. Wie ich entdeckte, lag Carolines Grab nur zwei Schritte von Josephs Wohnung und wenige Minuten von der Avenue Gambetta entfernt. Noch eine Frage, die ich nie gestellt hatte. Auf unseren Spaziergängen durch Paris hatte mich mein Vater oft zu den Gräbern der berühmten Toten des Père-Lachaise geführt, aber nie haben wir den Weg durch den jüdischen Teil des Friedhofs genommen. Warum hätte er seiner Mutter vor der Grabplatte gedenken sollen, die ihren Namen trug? Er hatte seine Toten immer bei sich: Die, die ihm am nächsten waren, hatten kein Grabmal, ihr Name war nicht in Marmor graviert. Mehrmals hatte er mir, wenn wir an der Urnenhalle vorbeikamen, seinen Wunsch mitgeteilt, eingeäschert zu werden. Erst jetzt konnte ich die wahren Gründe für seine Entscheidung verstehen.

    Kaum waren wir wieder zu Hause, nahm mein Vater Echo in seine Arme, dann trat er ans Fenster. Er öffnete es und ging auf den Balkon hinaus, um für eine Weile auf die Straße hinunterzusehen. Danach schloß er sich wie gewöhnlich in seinen Turnraum ein.

Bei der mündlichen Prüfung zum Abitur zog ich eine Aufgabe, die sich mit einem einzigen Wort, einem einzigen Namen zusammenfassen ließ: Laval*. Wie gelähmt stotterte ich einen Satz über die Kollaboration, der meinen Prüfer nicht zufriedenstellte. Ich war überzeugt, ich hätte es mit einem Vichy-Nostalgiker zu tun, und hüllte mich hartnäckig in Schweigen, was dazu führte, daß ich die Abiturklasse wiederholen mußte.
    Ich wollte in diesem Mißgeschick ein Zeichen sehen: Ich stieß noch immer gegen eine Mauer. In meiner Erzählung war noch ein weißer Fleck, ein Kapitel, dessen Inhalt auch meine Eltern nicht kannten. Ich wußte nun aber, wie ich seine Seiten füllen könnte: Ich hatte von einer Stelle in Paris erfahren, wo ich die Informationen erhalten würde, die mir noch fehlten.

    Mitten im Marais-Viertel liegt das Mémorial , die Pariser Gedenkstätte für den unbekannten jüdischen Märtyrer*, zu der auch ein Forschungs- und Dokumentationszentrum gehört. Die Recherchen von Beate und Serge Klarsfeld* hatten es ermöglicht, eine vollständige Liste aller Opfer des Naziregimes zu erstellen. Wenn man das Verzeichnis durchging, konnte man den Namen von jedem Deportierten finden, die Nummer und den Bestimmungsort des Zuges, in den man ihn hineingesteckt hatte, das Datum seiner Ankunft im Lager und das Todesdatum von allen, die nicht überlebt hatten. Ich verbrachte dort einen Nachmittag und blätterte einen riesigen Band nach dem anderen durch. Zwischenvielen tausend anderen entdeckte ich schließlich die Namen, die ich suchte. Zum ersten Mal sah ich sie geschrieben stehen. Und ich erfuhr von ihrem Schicksal: Hannah und Simon waren nach einem kurzen Aufenthalt im Durchgangslager Pithiviers nach Auschwitz deportiert worden. Dort wurden sie einen Tag nach ihrer Ankunft in die Gaskammern geschickt.

    Die Zugnummer, das Todesdatum: die nackten Tatsachen, Zahlen. Die Ereignisse, auf deren Grundlage ich meine Hypothesen errichtet hatte, wurden durch die Lektüre des Verzeichnisses zu einer außerordentlich belastenden Wirklichkeit. Mehrmals las ich die Namen derer, die gemeinsam mit Hannah und Simon die furchtbare Reise gemacht hatten, die wie sie die Dunkelheit der verplombten Waggons kennenlernten, das schreckliche Zusammengepferchtsein. Männernamen, Frauennamen, Namen von Kindern, deren Deportation Ministerpräsident Pierre Laval im Namen der Familienzusammenführung

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