Ein Geschenk zum Verlieben
brach, sie presste die Hand auf die bebenden Lippen. »Ich dachte, hier wirdâs dir gefallen. Es ist der einzige Ort, der auch nur annähernd so rein und schön ist, wie du es warst.« Sie musste schlucken. »Und wir können hier âºden Himmel streichelnâ¹, weiÃt du noch? Mum hat das zu uns gesagt, dass wir das tun sollten. âºDen Boden küssen und den Himmel streichelnâ¹, das tun wir jetzt â¦Â« Sie biss sich auf die Lippe. »Ich hab schreckliche Angst, Lily. Ich meine, nicht vor der Abfahrt, obwohl ich davor auch ganz schön Schiss habe. Ich meine, davor, ohne dich weiterleben zu müssen. Du warst immer mein Spiegelbild â mein schöneres, besseres Ich. Ich habe mich lange davor gedrückt, aber jetzt ⦠Ich wollte nicht, dass dieser Tag je kommt.«
Sie sog scharf die Luft ein, versuchte die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.
»Ach ja, kümmere dich gut um Mum. Sag ihr, dass ich sie jeden Tag vermisse. So wie dich. Und sag ihr, dass ich sie jetzt wieder mit Stolz erfüllen werde. Ich werde wieder so leben, wie sie es sich gewünscht hat. BloÃ, dass ich es jetzt auch für dich tue.« Sie streckte ihre Hand mit gekreuzten Fingern in die Höhe. »Wünsch mir Glück. Und wünsch mir Liebe.«
Sie schluchzte auf, sie konnte nicht anders. Die Welt, die sich klar und rein wie ein Kupferstich vor ihr ausbreitete, verschwamm. Sie machte die Augen zu. Doch dann spürte sie plötzlich einen Sonnenstrahl, der vom Himmel auf sie herabschien, eine sanfte Wärme, die ihr bis in die Knochen sickerte. Ihre Finger schoben den Deckel der Schatulle zurück. Ein Thermalwind wehte heran und hob Lilys Asche aus der Box, hinauf in den Himmel, wo sie mit den Adlern fliegen konnte. Innerhalb weniger Momente war sie verschwunden.
Laura schaute ihr durch erfrierende Tränen nach, wollte ihr folgen, sie zurückholen. Aber sie wusste, dass sie schon zu lange Gespenstern nachgejagt war. Sie hob ihren Rucksack auf und stapfte die fünfzig Meter zum roten Tor. Sie nickte dem Aufseher zu, der ihre Startnummer sorgfältig eintrug. Sie schnallte sich die Skier an, setzte Helm und Schneebrille auf und warf einen Blick in den vor ihr gähnenden schwindelnden Abgrund.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und dachte an ihre Schwester. »Für dich, Lily«, flüsterte sie. Mit Liebe im Herzen, die sie ihre Angst vergessen lieÃ, stieà sie sich ab â wild entschlossen, den Schnee unter ihren Kufen zum Glühen zu bringen.
Die Lautsprecherstimme dröhnte ihr in den Ohren, dazu das laute Getröte und Gejohle der Zuschauer, die sich herandrängten, sobald sie über die Ziellinie schoss. Sie hatte weder die schnellste Zeit geschafft noch die sauberste Abfahrtslinie gewählt â ganz im Gegenteil. Alles, was sie gewollt hatte, war, heil herunterzukommen. Und bei einem der Klippensprünge hätte es sie beinahe erwischt. Da sie jedoch eine der fünf »Wild Cards« im Rennen war â und noch dazu eine Frau â, wurde sie von der Menge stürmisch bejubelt. Verbier explodierte förmlich vor Begeisterung, als sie, die Zuschauer mit Schnee bespritzend, schwungvoll zum Stehen kam. Ein überdrehter Moderator in einem leuchtend gelben Overall und einer Narrenkappe kam auf sie zugesprungen und rammte ihr fast sein Mikro in den Mund.
»Laura Cunningham aus GroÃbritannien! Das war Ihre erste Teilnahme an der Freeride World Tour, stimmtâs? Wie fühlen Sie sich?«, brüllte er.
Laura nahm die Brille ab. Lachend und weinend schaute sie noch einmal zu dem einschüchternden Hang hinauf, den sie soeben hinabgerast war. »Ach, ich weià nicht ⦠fantastisch! Unglaublich! Ich ⦠ich kannâs nicht fassen, dass ich das geschafft habe!«
Allgemeiner Jubel. Laura wischte sich die Freudentränen aus dem Gesicht.
»Zwei Stürze und eine konservative Abfahrtslinie haben Sie vom Treppchen ferngehalten. Werden wir Sie beim nächsten Rennen in Chamonix wiedersehen?«
»Liebe Güte, nein! Dieses eine Mal hat mir gereicht. Ich musste meine ganze Geschicklichkeit und meinen ganzen Mut aufbieten, um da runterzukommen. Ich kann nur den Hut ziehen vor den Leuten, die sich da runterstürzen. Die sind einfach unglaublich â eine ganz andere Liga.«
»Nein, wirklich? Das ist doch nicht Ihr Ernst!«
»O doch. Einmal ist genug. Und
Weitere Kostenlose Bücher