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Ein Gesicht in der Menge

Ein Gesicht in der Menge

Titel: Ein Gesicht in der Menge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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wohnte aber im schwarzen Teil der Stadt hinter dem Rummelplatz. Er hatte keinen Vater, und das netteste Gerücht über seine Mutter lautete, dass sie im St. Joe’s Hospital in der Wäscherei arbeitete. Mitten im Schuljahr war er aus irgendeinem Provinznest in Tennessee nach Shrewsbury gekommen, ein Schritt, der Evers und seinen Kumpels idiotisch vorkam und den sie als Beleidigung empfanden. Es bereitete ihnen Freude, seinen weichen, schleppenden Akzent nachzuahmen und die stockenden Antworten, die er im Unterricht gab, in Monologe à la Foghorn Leghorn auszudehnen. «Hören Sie, hören Sie zu, Miss Pritchett, Ma’am, ich sag’s Ihnen, ich hab mir eben in die Hose geschissen.»
    Auf dem Bildschirm sprang Upton auf, drehte sich zu dem ausgestreckt daliegenden Catcher um und signalisierte, gerade als der Schiedsrichter die geballte Faust in die Luft streckte, dass er safe war. Eine andere Kamera zoomte weg, um zu zeigen, wie Joe Maddon aufgebracht von der Spielerbank heranstürmte. Die Zuschauer im ausverkauften Stadion waren außer sich.
    In der Wiederholung war – noch bevor Evers den Videorecorder per Fernbedienung anhielt und zurückspulte – über der in die blaue Wand eingelassenen Fox- 13 -Werbung Lester Embree mit seinem blöden Topfschnitt zu sehen, und während Upton der Berührung deutlich mit einem eleganten Hook Slide entging, zeigte der stille Junge – der verschrumpelt und ohne Finger vor den Augen von Evers und seinen Freunden aus dem Marsden’s Pond gezogen worden war – jetzt mit einem von den Fischen angeknabberten Stumpf nicht auf das direkt vor ihm ablaufende Spiel, sondern, als könnte er in die klimatisierte, schwach erleuchtete Eigentumswohnung hineinblicken, direkt auf Evers. Seine Lippen bewegten sich, und es sah nicht so aus, als würde er sagen:
Macht den Schiedsrichter fertig
.
    «Mach mal halblang», spottete Evers, als ginge es um die Fehlentscheidung. «Mein Gott, ich war noch ein Kind.»
    Im Fernsehen liefen wieder Live-Bilder – und es ging richtig zur Sache. Joe Maddon und der Home-Plate-Schiedsrichter standen sich Nase an Nase gegenüber. Beide quasselten, und man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass Maddon das Spiel schon bald aus dem Clubhaus verfolgen würde. Evers hatte keine Lust, sich anzusehen, wie man den Trainer der Rays des Feldes verwies. Er spulte mit der Fernbedienung zu der Stelle zurück, wo Lester Embree sichtbar geworden war.
    Vielleicht wird er nicht mehr da sein
, dachte Evers.
Vielleicht kann man Geister genauso wenig auf Video bannen, wie man Vampire im Spiegel sehen kann.
    Doch Lester Embree saß auf der Tribüne – noch dazu bei den teuren Plätzen –, und Evers fiel plötzlich der Tag an der Fairlawn-Schule ein, an dem der alte Soupy an Evers’ Spind gewartet hatte. Schon weil er dort stand, hätte Evers am liebsten ausgeholt und ihm eine geklebt. Schließlich hatte der kleine Scheißer dort nichts zu suchen.
Die andren hör’n auf, wenn du’s ihnen sagst
, hatte Soupy in seinem Südstaatenakzent gesagt.
Selbst Kaz.
    Er hatte von Chuckie Kazmierski gesprochen, nur dass ihn keiner Chuckie nannte, nicht einmal jetzt. Das konnte Evers bezeugen, denn Kaz war der einzige Kumpel aus Kindertagen, mit dem er noch immer befreundet war. Er wohnte in Punta Gorda, und manchmal trafen sie sich, um eine Runde Golf zu spielen. Bloß zwei glückliche Rentner, einer geschieden, einer verwitwet. Sie schwelgten oft in Erinnerungen – wozu waren alte Männer sonst eigentlich gut? –, doch schon seit Jahren hatten sie nicht mehr über Soupy Embree geredet. Evers musste sich jetzt fragen, woran das eigentlich lag. Scham? Gewissensbisse? Vielleicht bei ihm, aber wohl nicht bei Kaz. Als jüngster von sechs Brüdern und Kleinster in ihrem verlotterten Haufen hatte sich Kaz jeden Funken Respekt erkämpfen müssen. Er hatte sich den Platz an der Spitze sauer verdient, mit Fäusten und Blut, und empfand Lester Embrees Hilflosigkeit als persönliche Beleidigung. Ihm hatte niemand je eine Chance gegeben, und jetzt wollte dieser jammernde Hinterwäldler einen Freifahrtschein? «Nichts ist umsonst», sagte Kaz kopfschüttelnd, als wäre es eine traurige Wahrheit. «Irgendwann muss irgendwer irgendwie bezahlen.»
    Wahrscheinlich kann sich Kaz nicht mehr daran erinnern
, dachte Evers.
Konnte ich bis jetzt auch nicht.
Doch an diesem Abend konnte er sich lückenlos erinnern. Vor allem an den flehenden Blick des Jungen damals an seinem Spind. Große blaue, sanfte Augen.

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