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Ein Gesicht in der Menge

Ein Gesicht in der Menge

Titel: Ein Gesicht in der Menge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Und diese schmeichlerische Südstaatenstimme, die ihn anflehte, als läge es wirklich in seiner Macht, ihm den Wunsch zu erfüllen.
    Kaz und die andren hör’n auf dich. Gib mir ’ne Chance, ja? Ich geb dir Geld. Jede Woche zwei Dollar, das is mein ganzes Taschengeld. Ich will doch bloß mit euch auskommen.
    Obwohl er nicht wollte, konnte sich Evers an seine Antwort erinnern, eine höhnische Parodie auf den Akzent des Jungen:
Wennde bloß mit uns auskommen willst, dann mach, dassde hier rauskommst, Soupy. Ich will dein Geld nicht, das is bestimmt voller Schwuchtelbazillen.
    Als treuer Statthalter (und nicht General, wie Lester Embree geglaubt hatte) erzählte Evers sofort Kaz von der Sache, schmückte das Ganze noch weiter aus und lachte über seinen eigenen Akzent. Später, im Schatten der Fahnenstange, feuerte er Kaz aus dem Kreis nervöser Jungen heraus an, die um die Kämpfenden herumstanden. Eigentlich war es gar kein Kampf, denn Soupy wehrte sich nicht. Er sackte bei Kaz’ erstem Schlag zu Boden und rollte sich zusammen, während Kaz ihn nach Lust und Laune schlug oder trat. Und dann setzte sich Kaz, als wäre er müde geworden, rittlings auf ihn, packte ihn an den Handgelenken und drückte seine Arme über dem Kopf auf den Boden. Soupy weinte, an seiner aufgeplatzten Lippe bildeten sich blutige Bläschen. Bei dem Gerangel war sein rot-blau gestreiftes Hemd zerrissen, und durch ein faustgroßes Loch war die fischige Haut seiner Brust zu sehen. Er wehrte sich auch nicht, als Kaz seine Handgelenke losließ, mit beiden Händen in das Loch griff und den Stoff zerriss. Der Kragen wollte nicht nachgeben, und Kaz zog das Hemd mit drei festen Rucken Soupy über die Ohren, stand dann auf, wirbelte die Fetzen wie ein Lasso über dem Kopf, schleuderte es dann auf Soupy hinab und ging davon. Neben der inneren Wildheit, die Kaz angezapft hatte, und der Souveränität, mit der er seinen Gegner vernichtet hatte, fand Evers auch erstaunlich, wie schnell alles gegangen war. Es hatte insgesamt vielleicht zwei Minuten gedauert. Die Lehrer hatten es nicht mal bis nach draußen geschafft.
    Als der Junge eine Woche später verschwand, dachten Evers und seine Kumpels, dass er weggelaufen sein musste. Soupys Mutter war anderer Ansicht. Sie sagte, er sei gern in der freien Natur unterwegs. Er sei ein verträumter Junge, vielleicht habe er sich verirrt. Im nahe gelegenen Wald fand eine groß angelegte Suchaktion statt, mit richtigen Spürhunden aus Boston. Als Pfadfinder waren Evers und seine Freunde daran beteiligt. Sie hörten den Lärm auf der Dammseite von Marsden’s Pond und rannten hin. Später, als sie das augenlose Etwas sahen, das aus der Überlaufrinne gezogen wurde, wünschten sie alle, sie hätten es nicht getan.
    Und jetzt, wie auch immer das zu erklären sein mochte, war Lester Embree im Tropicana Field und stand mit den anderen Fans auf, um sich das Geschehen an der Home Plate anzusehen. Von seinen Fingern war nicht mehr viel übrig, doch er schien noch beide Daumen zu haben. Auch Augen und Nase. Na ja, den größten Teil der Nase. Lester sah Dean Evers durch den Bildschirm hindurch an, genau wie Miss Nancy in den alten
Romper-Room
-Folgen durch ihren Zauberspiegel blickte. «Romper-stomper-bomper-buh», sang Miss Nancy damals immer. «Mein Zauberspiegel sieht euch zu.»
    Lesters auf ihn gerichteter Fingerstumpf. Lesters Lippenbewegungen. Was sagte er? Evers musste nur zweimal hinsehen, um sicher zu sein:
Du hast mich ermordet
.
    «Das stimmt doch nicht!», brüllte er dem Jungen in dem rot-blau gestreiften Hemd entgegen. «Stimmt nicht!
Du bist in Marsden’s Pond gestürzt! In den Teich! Du bist in den Teich gestürzt, und das war verdammt noch mal deine eigene Schuld!
»
    Er schaltete den Fernseher aus und ging ins Bett. Wie ein Draht sirrend, lag er da, stand dann auf, nahm zwei Ambien und spülte sie mit einem kräftigen Schluck Scotch hinunter. Die Tabletten-Alkohol-Mischung brachte zumindest das Sirren zum Schweigen, doch er lag immer noch wach und starrte mit Augen, die so groß und glatt wie Messingtürknäufe sein mussten, in die Dunkelheit. Um drei drehte er die Zeitanzeige des Radios zur Wand. Als um fünf das erste Licht der Morgendämmerung durch die Vorhänge drang, kam ihm ein beruhigender Gedanke. Er wünschte, er könnte diesen Gedanken mit Soupy Embree teilen, aber da das nicht ging, sprach er ihn wenigstens laut aus.
    «Wenn man mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit zurückkehren und die

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