Ein Gesicht so schön und kalt
bewußt
war - Mrs. Wagner war ein Problem, das wußte er. Es mußte
doch einen Grund dafür geben, weshalb Jimmy von ihm
verlangt hatte, sie zu akzeptieren.
Was Bob allerdings nicht wußte, war die Tatsache, daß ein
»Partner« von Weeks unmittelbar bevor die Jury in Klausur
geschickt wurde, diskret an Alfred Wight, den Geschworenen
Nummer 2, herangetreten war. Weeks hatte herausgefunden, daß
Wight eine unhe ilbar kranke Frau hatte und wegen der
medizinischen Behandlungskosten kurz vor dem Bankrott stand.
Der verzweifelte Mr. Wight hatte sich für eine Summe von
einhunderttausend Dollar einverstanden erklärt, dafür zu
garantieren, daß er »Nicht schuldig« stimmen werde.
64
Kerry betrachtete den Stapel Akten auf dem Ablagetisch
neben ihrem Schreibtisch mit Abscheu. Sie wußte, daß sie sich
bald darum kümmern mußte; es war an der Zeit, neue Fälle
zuzuteilen. Darüber hinaus lagen einige Vergleichsanträge vor,
die sie mit Frank oder Carmen, der stellvertretenden
Staatsanwältin, besprechen mußte. Da war soviel, was erledigt
werden mußte, und sie sollte sich wirklich darauf konzentrieren.
Statt dessen bat sie ihre Sekretärin, soweit möglich eine
Verbindung mit Dr. Craig Riker herzustellen, dem Psychiater,
den sie manchmal als Sachverständigen bei Mordfällen
heranzog. Riker war ein erfahrener, pragmatischer Arzt, dessen
philosophische Einstellung sie teilte. Er war der Ansicht, auch
wenn einem das Leben manchmal in der Tat schwere Schläge
versetze, müsse ein Mensch eben seine Wunden lecken und
dann wieder die Ärmel hochkrempeln. Vor allem aber hatte er
die Gabe, das obskure psychiatrische Kauderwelsch zu
entschärfen, das die Seelenklempner, die die Verteidiger
aufmarschieren ließen, von sich zu geben pflegten.
Kerry schätzte ihn ganz besonders, wenn er auf die Frage, ob
er einen Angeklagten für unzurechnungsfähig halte, zur Antwort
gab: »Ich halte ihn für verrückt, aber nicht für
unzurechnungsfähig. Er wußte genau, was er tat, als er ins Haus
seiner Tante eindrang und sie umbrachte. Er hatte das Testament
gelesen.«
»Dr. Riker hat gerade eine Patientin bei sich«, sagte Kerrys
Sekretärin. »Er ruft Sie um zehn vor elf zurück.«
Und wie versprochen, meldete sich Janet um Punkt zehn vor
elf mit der Nachricht, Dr. Riker sei am Apparat. »Was gibt’s,
Kerry?«
Sie erzählte ihm von Dr. Smiths Angewohnheit, andere
Frauen mit dem Gesicht seiner Tochter auszustatten. »Er hat so
gut wie abgestritten, an Suzanne einen Eingriff vorgenommen
zu haben«, erklärte sie, »was auch stimmen könnte. Er kann sie
ja an einen Kollegen überwiesen haben. Aber ist das eine Form
von Trauerarbeit, wenn er andere Frauen zu einem Abklatsch
von Suzanne macht?«
»Das ist eine ganz schön krankhafte Art von Trauerarbeit«,
antwortete Riker. »Sie sagen, daß er sie, seit sie ein Baby war,
nicht mehr gesehen hatte?«
»Richtig.«
»Und dann ist sie bei ihm in der Praxis erschienen?«
»Ja.«
»Was für ein Typ ist dieser Smith?«
»Ziemlich furchteinflößend.«
»Ein Einzelgänger?«
»Würde mich nicht wundern.«
»Kerry, ich muß mehr darüber erfahren, und auf jeden Fall
wüßte ich gern, ob er seine Tochter operativ behandelt hat, einen
Kollegen dazu aufgefordert hat oder ob sie sich schon behandeln
ließ, bevor sie bei ihm auftauchte.«
»An die letzte Möglichkeit hatte ich noch gar nicht gedacht.«
»Aber falls - und ich betone das Wort falls er Suzanne nach
all diesen Jahren wiedersah, eine reizlose oder sogar unleugbar
häßliche junge Frau vor sich hatte, sie operierte, zu einer
Schönheit machte und dann von seinem eigenen Werk
hingerissen war, dann müssen wir wohl mit Erotomanie
rechnen.«
»Was ist denn das?« fragte Kerry.
»Es umschreibt ein weites Feld. Aber wenn ein Arzt, der ein
zurückgezogenes Leben führt, nach so langer Zeit seine Tochter
wiedersieht, sie in eine Schönheit verwandelt und dann das
Gefühl hat, etwas Großartiges vollbracht zu haben, könnten wir
vorbringen, daß es in diese Kategorie fällt. Er ist
besitzergreifend ihr gegenüber, ja sogar verliebt in sie. Es ist ein
Wahnleiden, das zum Beispiel oft auf Spanner zutrifft.«
Kerry mußte an Deidre Reardon denken, als sie ihr davon
erzählte, daß Dr. Smith Suzanne wie ein Objekt behandelt habe.
Sie berichtete Dr. Riker von der Szene, als Smith etwas von
Suzannes Wange weggewischt und ihr dann eine Predigt über
die Bewahrung von Schönheit gehalten hatte.
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