Ein Glas voll Mord
überschäumende Produktivkraft der erst spät Erfolgreichen, die sie in den Jahren des Shandy-Kelling-Durchbruchs eine dritte Serie auf Kiel legen und vom Stapel laufen ließ – »to launch«, wie es im Englischen heißt? 1980, nach dem zweiten Shandy- und dem zweiten Kelling-Buch, veröffentlicht Charlotte MacLeod unter dem Pseudonym Alisa Craig den ersten Roman um eine couragierte junge Kanadierin und ihren Freund und Helfer und späteren Ehemann, Inspector Rhys von der ebenso berühmten wie fotogenen Königlich Kanadischen Berittenen Polizei. So erfahren wir, dass die »Mounties« (von »mounted« = beritten) nicht nur hoch zu Ross in roten Röcken und steifen Cowboyhüten Hollywoodfilmen aus Kanada Glanz und Glamour verleihen, sondern, auf bundesstaatlicher Ebene angesiedelt, in schlichtem Zivil so etwas wie der Scotland Yard von Kanada sind, der jederzeit zur Unterstützung der lokalen Kräfte angefordert werden kann.
Ein Pseudonym war im Falle einer solchen Drittserie selbstverständlich; zu groß war die Furcht von Autoren und Verlegern des erst seit zwei Menschenaltern zu ästhetischer Reputation aufgestiegenen Genres, als »wallacey« zu gelten – wie der erfolgreiche, aber nicht sehr angesehene Edgar Wallace zu sein, der an fünf Romanen zugleich diktiert haben soll, mit entsprechender Fehlerquote bei Namen, Vornamen und Verwandtschaftsbeziehungen.
Zugleich bekennt sich die fiktive Alisa Craig in einer knappen Pseudo-Vita zum realen Geburtsort ihres Alter Ego, Bath in New Brunswick, und zur Heimatliebe der exilierten Kanadierin. Beidem trägt sie mit dem Milieu ihres Craig-Wadman-Rhys-Erstlings Rechnung, einem Dorf namens Pitcherville in New Brunswick. Aufgrund des seit 1763 unangefochtenen britischen Einflusses ist es dörflicher, als seine amerikanischen Schwestern es sind: Die Bauernhöfe sind im Dorf geblieben, neben der Landwirtschaft bietet ein örtliches Sägewerk Arbeitsplätze; der Dorfpolizist ist hier ein Marshall und betreibt nebenbei eine Schmiede-Schlosserei mit integrierter Autowerkstatt. Über dem Dorf thront noch aus alter Zeit ein Herrenhaus, ein Dorfarzt für die Lebenden und ein Bestatter für die Toten komplettieren die Idylle.
Die natürlich keine ist, wie wir von Agatha Christie und ihren britischen Dörfern her wissen. Die scheinbare Idylle ist nicht nur durch die Moderne mit Zersiedelung und Tourismus gefährdet, sondern bereits in sich selber. Der Roman fällt, nach Ernst Blochs bildkräftigem Ausdruck, wie viele seines Genres buchstäblich mit der Leiche ins Haus –, in der vierten Zeile stirbt die Herrin des Herrenhauses, einige Seiten später der Dorfarzt, der sie soeben untersucht hat. Dass beides nicht als Lebensmittelvergiftung bzw. als häuslicher Unfall durchgeht, wie der Mörder es wohl beabsichtigt hat, liegt an der ebenso zynischen wie scharf beobachtenden jungen Nachbarin Janet Wadman. Ihr fallen die winzigen Unstimmigkeiten auf, die die Unglücksfälle erst zu Fällen werden lassen, zum Beispiel, ob Bohnen in einem Einmachglas geschnitten oder gebrochen wurden.
Auch wenn die Pseudonymität zunächst durchaus ernst gemeint war und gewahrt wurde, etwa durch einen anderen Verlag, hätten Kenner des Genres die hohe Familienähnlichkeit der MacLeod-Craigschen Detektive erkennen können. Agatha Christies Miss Marple sagt einmal von sich, sie habe die unangenehme Angewohnheit, von allen gleich das Schlechteste anzunehmen, und traurigerweise habe sie auch noch meistens Recht damit. Ebenso begegnen Peter Shandy, Sarah Kelling und Janet Wadman gleichermaßen ihren Mitmenschen mit einem herzerfrischenden Zynismus; als Detektive zeichnen sie sich dadurch aus, dass in ihren Köpfen gleichsam ein Computerprogramm abläuft, das für jeden auch nur entfernt in Frage Kommenden Gelegenheit, Alibi, Zugang zur Tatwaffe, Motiv und logische und psychologische Wahrscheinlichkeit blitzschnell überprüft und dabei keine Rücksicht auf Tabus nimmt und keine Verwandten oder Freunde kennt.
Zu Hilfe kommt Janet Wadman bald Madoc Rhys von den Mounties, der nur so gar nicht mountymäßig aussieht. Unauffällig will er im Dorf inkognito seine Ermittlungen führen – gelten die Unglücksfälle doch offiziell immer noch als solche. Aber was heißt in einem Dorf schon unauffällig, und was nützt ein Inkognito, wenn er einen der Handlanger aus der Landwirtschaft einst eingebuchtet hat und dieser ihn auf der Stelle wieder erkennt?
»Gleichnis der Zerstörung einer heilen Welt« hat der
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