Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
mitgenommen. Als ich auf die Straße hinaustrat, war ich irgendwie besonders gut gelaunt … Eine neue, bedeutsame Empfindung keimte in meiner Seele. Zudem lief alles wie auf Wunsch ab: Ein glücklicher Zufall kam mir ungewöhnlich bald zur Hilfe, und ich fand eine ganz und gar günstige Wohnung; aber von der Wohnung später, jetzt will ich bei der Hauptsache bleiben.
Es war erst kurz nach eins, als ich zu Wassin zurückkehrte, um meinen Koffer zu holen, und ihn abermals zu Hause antraf. Bei meinem Anblick rief er mir heiter und herzlich zu:
»Ich freue mich sehr, daß Sie mich noch angetroffen haben. Ich war schon dabei zu gehen! Ich kann Ihnen von einer Tatsache berichten, die Sie, glaube ich, sehr interessieren wird.«
»Ganz bestimmt!« rief ich.
»Na, Sie sehen ja ganz energisch aus. Sagen Sie, haben Sie etwas von einem Brief gewußt, der bei Kraft deponiert war und gestern in Werssilows Hände gelangt ist, und zwar ein Papier, das mit dem von ihm gewonnenen Prozeß im Zusammenhang steht? In diesem Brief erklärt der Erblasser seinen Willen in einem dem gestrigen Gerichtsurteil entgegengesetzten Sinn. Der Brief ist schon vor längerer Zeit geschrieben worden. Kurz, ich weiß nichts Genaues über die Einzelheiten, aber vielleicht wissen Sie etwas davon?«
»Wie sollte ich das nicht wissen? Kraft hat mich vorgestern deswegen mit nach Hause genommen … nach der bewußten Gesellschaft, um mir diesen Brief auszuhändigen, und ich habe ihn an Werssilow weitergegeben.«
»So? Das habe ich mir gedacht. Stellen Sie sich vor, daß die Angelegenheit, von der Werssilow vorhin sprach – die ihn gestern abend verhindert hat, hierherzukommen und dieses junge Mädchen zu überreden –, daß diese Angelegenheit sich gerade durch diesen Brief ergeben hat. Werssilow begab sich gestern stehenden Fußes zu dem Anwalt des Fürsten Sokolskij, händigte ihm diesen Brief aus und verzichtete auf die gesamte erstrittene Erbschaft. In diesem Augenblick ist sein Verzicht bereits rechtskräftig. Werssilow schenkt nicht, sondern anerkennt in dieser Akte das uneingeschränkte Recht der Fürsten.«
Ich war wie erstarrt, aber ich war begeistert. Ehrlich gesagt, ich war fest überzeugt gewesen, daß Werssilow den Brief vernichten würde, noch mehr – obwohl ich vor Kraft davon geredet hatte, daß dies unehrenhaft wäre, obwohl ich selbst damals im Gasthaus vor mich hin wiederholt hatte, ich sei zu einem »reinen Menschen und nicht zu diesem« gekommen –, in meinem tiefsten Herzen, im Innersten meiner Seele hatte ich geglaubt, daß es keine andere Möglichkeit gäbe, als dieses Dokument aus der Welt zu schaffen. Und wenn ich dies Werssilow später vorwerfen würde, so täte ich es mit Vorbedacht, gewissermaßen zum Schein, das heißt, nur um meine Überlegenheit ihm gegenüber aufrechtzuerhalten. Aber jetzt, da ich von Werssilows Tat hörte, geriet ich sofort in aufrichtige, ungetrübte Begeisterung, verwarf reumütig und beschämt meinen Zynismus, meine Indifferenz gegen die Tugend, erhob Werssilow in den höchsten Himmel und war drauf und dran, Wassin um den Hals zu fallen.
»Was für ein Mensch! Was für ein Mensch! Wer hätte das fertiggebracht?« rief ich wie berauscht.
»Ich stimme mit Ihnen darin überein, daß sehr viele es nicht fertiggebracht hätten … und daß ein solches Handeln ausgesprochen uneigennützig ist, aber …«
»… Aber? Reden Sie weiter, Wassin, Sie haben ein ›Aber‹?«
»Ja, natürlich gibt es auch ein ›Aber‹; Werssilow hat meiner Ansicht nach ein wenig vorschnell und ein wenig zweideutig gehandelt«, lächelte Wassin.
»Zweideutig?«
»Ja. Es ging nicht ohne einen gewissen ›Sockel‹, weil es in jedem Fall möglich gewesen wäre, dasselbe zu erreichen, ohne sich zu benachteiligen. Wenn nicht die Hälfte, so hätte zweifellos ein gewisser Teil der Erbschaft auch jetzt Werssilow zukommen können, sogar bei der akribischsten Auffassung der Sache, zumal das Dokument keinerlei entscheidende Bedeutung für die Auslegung hatte und der Prozeß schon zu seinen Gunsten entschieden war. Diese Auffassung vertritt sogar der Anwalt der Gegenpartei; ich habe soeben mit ihm gesprochen. Werssilows Verhalten wäre nicht minder bewundernswert gewesen, aber eine stolze Laune ließ es nicht zu. Vor allem ist Herr Werssilow allzusehr in Feuer geraten und hat sich übereilt, hat er doch selbst vorhin gesagt, die Angelegenheit hätte noch eine Woche warten können …«
»Wissen Sie, Wassin, ich kann
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