Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Beleidigung in dem Bordell ihr Verstand sich gleichsam verwirrt hat. Bedenkt man dazu ihre Lage, die Beleidigung durch den Kaufmann, gleich am Anfang … All das hätte genauso auch in früherer Zeit geschehen können und ist meiner Meinung nach keineswegs für die zeitgenössische Jugend charakteristisch.«
»Sie ist ein wenig ungeduldig, die heutige Jugend, abgesehen von dem geringen Wirklichkeitssinn, der zwar jeder Jugend zu jeder Zeit fehlt, aber der gegenwärtigen in irgendwie besonderem Maße … Sagen Sie, was hat hier der Herr Stjebelkow angerichtet?«
»Der Herr Stjebelkow«, mischte ich mich plötzlich ein, »ist die Ursache von allem. Wäre er nicht gewesen, wäre auch nichts passiert. Er hat Öl ins Feuer gegossen.«
Werssilow hörte zu, ohne mich anzusehen. Wassin runzelte die Brauen.
»Ich mache mir Vorwürfe auch noch wegen einer komischen Sache«, fuhr Werssilow fort, bedächtig und immer noch die Worte dehnend, »ich glaube, ich habe mir, nach schlechter Gewohnheit, ihr gegenüber eine Art Aufgeräumtheit erlaubt, ein gewisses leichtsinniges kurzes Lachen – mit einem Wort, ich war nicht schroff, trocken und finster genug, drei Eigenschaften, die anscheinend bei der heutigen Jugend ganz besonders geschätzt sind – mit einem Wort, ich habe ihr Grund gegeben, mich für einen wandelnden Seladon zu halten.«
»Ganz im Gegenteil«, mischte ich mich mit großer Schärfe abermals ein. »Die Mutter betont ausdrücklich, daß Sie einen hervorragenden Eindruck gemacht haben, gerade durch den Ernst, sogar durch die Strenge, die Aufrichtigkeit, das sind ihre eigenen Worte. Die Verstorbene selbst hat Sie, als Sie gegangen waren, in diesem Sinne hoch gelobt.«
»S-so«, sagte Werssilow vage, würdigte mich aber endlich eines flüchtigen Blicks. »Nehmen Sie doch diesen Zettel an sich. Er gehört notwendig dazu.« Und er hielt Wassin ein winziges Stück Papier hin. Der nahm es, und als er sah, daß ich neugierig danach schielte, reichte er es mir weiter zum Lesen. Es waren ein, zwei schiefe Zeilen, mit Bleistift und vielleicht im Dunkeln hingekritzelt:
»Mama, liebe, vergeben Sie mir, daß ich das Debut meines Lebens abgebrochen habe. Ihre Sie stets betrübende Olja.«
»Das hat man erst heute morgen gefunden«, erklärte Wassin.
»Was für ein seltsames Briefchen!« rief ich erstaunt aus.
»Was ist daran seltsam?« fragte Wassin.
»Wie kann man sich in einem solchen Augenblick humoristisch ausdrücken?«
Wassin sah mich fragend an.
»Und was für ein Humor!« fuhr ich fort. »Die gängige Gymnasiastensprache … Wer bringt es in einem solchen Augenblick fertig, in einem Briefchen an die unglückliche Mutter – und sie hat ihre Mutter geliebt, wie sich zeigt – zu schreiben: ›das Debut meines Lebens abgebrochen‹!«
»Und warum soll man das nicht fertigbringen?« Wassin hatte immer noch nicht begriffen.
»Das hat ja überhaupt nichts mit Humor zu tun«, bemerkte schließlich Werssilow, »natürlich ist der Ausdruck völlig unpassend, es ist der falsche Ton und gehört wirklich in den Gymnasiasten- oder sonst einen konventionellen Kameradenjargon, wie du schon gesagt hast, oder in die Sprache des Feuilletons, aber die Verstorbene gebraucht ihn auf diesem furchtbaren Zettel vollkommen naiv und ernst.«
»Das kann nicht sein. Sie hat das Gymnasium beendet und es mit einer Silbermedaille verlassen.«
»Die Silbermedaille hat damit nichts zu tun. Heute schließen viele ihr Gymnasium damit ab.«
»Einmal mehr gegen die Jugend«, lächelte Wassin.
»Keineswegs«, antwortete ihm Werssilow. Er stand auf und griff nach seinem Hut. »Wenn der heutigen Generation die literarische Ader abgeht, so besitzt sie doch andere Vorzüge, zweifellos«, fügte er mit ungewöhnlichem Ernst hinzu. »Dabei sind ›viele‹ keineswegs ›alle‹, und ich werfe, zum Beispiel, Ihnen eine ungenügende literarische Bildung nicht vor, obwohl Sie ebenfalls ein noch junger Mann sind.«
»Obwohl auch Wassin nichts an dem ›Debut‹ auszusetzen hat!« Diese Bemerkung konnte ich mir nicht verkneifen.
Werssilow reichte Wassin schweigend die Hand; der griff gleichfalls nach der Schirmmütze, um mit ihm zusammen hinauszugehen, und rief mir zu: »Auf Wiedersehen!« Werssilow verließ das Zimmer, ohne mich zu beachten. Ich hatte keine Zeit zu verlieren: Ich mußte um jeden Preis eine Bleibe finden – nun dringender denn je! Mama war nicht mehr bei der Wirtin, sie war bereits gegangen und hatte die Nachbarin
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