Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
eine Frau, deren Erziehung noch aus der Zeit der Leibeigenschaft stammt!‹ … Und was sie nicht alles damals gesagt hat, sie griff nach ihrem Hütchen, stürzte hinaus, und ich rufe ihr noch nach. ‘Was hat sie nur?’ denke ich, ‘wohin rennt sie?’ Sie war zum Adreßbüro gerannt und hatte sich erkundigt, wo ein Herr Werssilow logiert, und kam dann zurück: ›Heute noch‹, sagt sie, ›bring ich ihm das Geld zurück und werfe es ihm in die Visage; er wollte mich genauso beleidigen wie Safronow (das ist unser Kaufmann); aber Safronow hat mich beleidigt wie ein grober Bauer; dieser aber wie ein listiger Jesuit.‹ Und da klopft plötzlich zu unserem Unglück dieser gestrige Herr an unsere Tür: ›Ich höre, es geht um Werssilow, dazu kann ich einiges beitragen.‹ Kaum hörte sie den Namen Werssilow, stürzte sie sich schon auf ihn, völlig außer sich, und redete und redete, ich aber sehe ihr zu und wundere mich: Mit keinem Menschen hatte sie, die so schweigsam ist, so geredet wie jetzt mit diesem Fremden! Mit glühenden Wangen und blitzenden Augen … Und ausgerechnet da: ›Sie haben völlig recht, gnädiges Fräulein, Werssilow‹, sagt er, ›ist haargenau so wie die hiesigen Generäle, die in den Zeitungen beschrieben werden; so ein General legt seine sämtlichen Orden an und sucht sämtliche Gouvernanten auf, die in den Zeitungen Annoncen aufgeben, sucht sie auf und findet das, worauf es ihm ankommt; und wenn er das, was er sucht, nicht findet, bleibt er eine Weile, plaudert, verspricht das Blaue vom Himmel und verabschiedet sich. Immerhin hat er einen Spaß gehabt.‹ Sogar Olja lacht laut, aber ungut. Doch dieser Herr greift, vor meinen Augen, nach ihrer Hand und will ihre Hand an sein Herz drücken: ›Ich verfüge‹, sagt er, ›meine Gnädige, ebenfalls über eigenes Kapital und bin stets in der Lage, es einer schönen jungen Dame zu Füßen zu legen. Aber es ist tunlicher‹, sagt er, ›daß ich vorher nur das reizende Händchen küsse …‹ Und er will schon, ich sehe es, ihre Hand küssen. Da fährt sie in die Höhe und ich auch, gleichzeitig, und wir haben ihn gemeinsam rausgeworfen. Gegen Abend reißt Olja das Geld an sich, rennt damit fort und kommt zurück: ›Mama, ich habe mich an dem Ehrlosen gerächt!‹ – ›Ach, Olja, Olja‹, sage ich, ›vielleicht haben wir unser Glück verspielt. Vielleicht hast du einen vornehmen, wohltätigen Menschen beleidigt!‹ Und dann kamen mir vor Ärger über sie die Tränen, ich konnte sie nicht länger zurückhalten. Da schreit sie mich an: ›Ich will nicht, ich will nicht! Mag er der ehrlichste Mensch auf der Welt sein, auch dann will ich seine Almosen nicht! Niemand soll Mitleid mit mir haben, auch das will ich nicht!‹ Ich ging zu Bett, ohne den mindesten Argwohn. Wie oft habe ich diesen Nagel an Ihrer Wand gesehen, der von Ihrem Spiegel übriggeblieben ist – und habe mir nichts, gar nichts gedacht, weder gestern noch früher, und auch von Olja nie und nimmer so etwas erwartet! Ich habe gewöhnlich einen sehr festen Schlaf und schnarche auch. Das kommt von dem Blutandrang im Kopf, aber manchmal auch im Herzen, und dann schnarche ich im Schlaf, so daß Olja mich dann mitten in der Nacht weckt: ›Wie kommt es, Mama, daß Sie einen so festen Schlaf haben? Sie werden ja überhaupt nicht wach, wenn man Sie weckt!‹ – ›Oi‹, sage ich, ›ich habe einen festen Schlaf, oi, sehr festen.‹ So muß sie gestern gewartet haben, bis ich im Schlaf schnarchte, und dann ohne Sorge aufgestanden sein. Dieser Riemen von unserem Koffer, der lange Riemen, lag immer herum, einen ganzen Monat lang, und erst gestern morgen dachte ich: ‘Ich müßte ihn endlich weglegen, damit er nicht immer hier herumliegt.’ Und den Stuhl muß sie dann mit dem Fuß zur Seite gestoßen haben, und damit er keinen Krach macht, hat sie auf dieser Seite ihren Rock ausgebreitet. Und ich muß lange danach, eine ganze Stunde lang oder noch länger, aufgewacht sein: ›Olja‹, rufe ich. ›Olja!‹ Sogleich ahnte mir etwas, und ich rufe immer wieder nach ihr. Ob ich nun keinen Atemzug von ihrem Bett her hörte, ob ich vielleicht trotz der Dunkelheit erkannte, daß das Bett leer war – ich fuhr plötzlich hoch, tastete: Das Bett ist leer, das Kopfkissen kalt. Da sank mir mein Herz, ich stand wie versteinert da, mein Verstand trübte sich: ‘Sie mußte raus’, denke ich, mache einen Schritt und sehe sie stehen, an ihrem Bett, in der Ecke, nahe der Tür. Ich stehe da,
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