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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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schweige, sehe sie an, und sie scheint mich in der Dunkelheit genau so anzusehen und rührt sich nicht. ‘Aber warum’, denke ich, ‘ist sie auf den Stuhl gestiegen?’ – ›Olja‹, flüstere ich und habe Angst, ›Olja, hörst du mich?‹ Aber plötzlich ging es mir wie ein Licht auf; ich machte einen Schritt vorwärts, streckte beide Arme aus nach ihr, umarmte sie, sie aber pendelt in meinen Armen, ich halte sie fest, aber sie pendelt weiter, ich begreife alles und will es nicht begreifen … Ich will schreien, aber der Schrei erstickt … Ach! denke ich, stürze mit aller Wucht hin und schreie …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
    »Wassin«, sagte ich am nächsten Morgen, es war schon nach fünf, »wenn Stjebelkow nicht gekommen wäre, wäre vielleicht nichts passiert.«
    »Wer weiß, wahrscheinlich wäre es doch passiert. In diesem Fall kann man nicht so urteilen, hier war der Siedepunkt schon erreicht … Allerdings kann dieser Stjebelkow manchmal …«
    Er brach ab und machte ein Gesicht, als hätte er einen unangenehmen Gedanken. Es war noch nicht sieben, als er schon wieder wegfuhr; er hatte sehr viel zu erledigen. Endlich war ich allein. Inzwischen war es hell geworden. In meinem Kopf drehte sich alles. Mir stand Werssilow vor Augen: Die Erzählung dieser Dame zeigte ihn in einem völlig anderen Licht. Um bequemer nachdenken zu können, streckte ich mich auf Wassins Bett aus, in Kleidern und mit Schuhen, nur ganz kurz, ohne die leiseste Absicht zu schlafen – und plötzlich war ich eingeschlafen, ohne es zu merken. Ich schlief fast vier Stunden; niemand weckte mich.

Zehntes Kapitel
    I
    Ich wachte gegen halb elf auf und traute eine Weile meinen Augen nicht: Auf dem Diwan, auf dem ich gestern eingeschlafen war, saß meine Mutter, und an ihrer Seite – die unglückliche Nachbarin, die Mutter der Selbstmörderin. Sie hielten sich bei den Händen, unterhielten sich flüsternd, wohl um mich nicht zu wecken, und weinten beide. Ich sprang von dem Bett auf und fiel meiner Mutter geradewegs um den Hals, um sie zu küssen. Sie strahlte nur so, küßte mich und bekreuzte mich dreimal mit der Rechten. Wir kamen nicht dazu, auch nur ein Wort zu wechseln: Die Tür ging auf, und Werssilow und Wassin kamen herein. Mama erhob sich sofort und ging mit der Nachbarin hinaus. Wassin reichte mir die Hand, aber Werssilow nahm, ohne ein Wort an mich zu richten, im Sessel Platz. Er und Mama waren anscheinend schon seit einiger Zeit hier. Er sah bedrückt und besorgt aus.
    »Am meisten bedaure ich«, begann er bedächtig zu Wassin, offenbar ein begonnenes Gespräch fortsetzend, »daß ich keine Zeit fand, das alles noch gestern abend in Ordnung zu bringen und wahrscheinlich – diese furchtbare Sache zu verhindern! Es wäre ja Zeit genug gewesen: Es war noch nicht einmal acht. Kaum war sie gestern abend von uns weggelaufen, als ich bereits den Gedanken faßte, ihr hierher zu folgen und sie zu überreden, aber diese unvorhergesehene und unaufschiebbare Angelegenheit, die ich übrigens ohne weiteres auf heute … ja, um eine Woche hätte verschieben können – diese fatale Angelegenheit hat alles durchkreuzt und alles verdorben. Ein vermaledeites Zusammentreffen!«
    »Vielleicht hätten Sie zum Überreden keine Zeit mehr gehabt, hier war, scheint mir, schon ohne Ihr Zutun viel verbrannt und übergelaufen«, bemerkte Wassin beiläufig.
    »Nein, die Zeit, die Zeit hätte ich ganz bestimmt gehabt, und ich hatte auch schon die Idee, statt meiner Sofja Andrejewna zu schicken. Kaum hatte ich diese Idee – schon war sie wieder weg. Sie wäre die einzige gewesen, die sie hätte umstimmen können, und die Unglückliche wäre am Leben geblieben. Nein, ich werde mich nie, nie wieder … mit einer ›guten Tat‹ irgendwo einmischen … und ich habe mich ja nur dieses einzige Mal eingemischt! Dabei habe ich mir eingebildet, daß ich noch nicht hinter der jungen Generation zurückgeblieben bin und die moderne Jugend verstehe. Ja, unsere Alten vergreisen , bevor sie gereift sind. Übrigens gibt es tatsächlich sehr viele Zeitgenossen, die sich aus Gewohnheit immer noch für die Jugend halten, weil sie erst gestern noch Jugend waren und nicht merken, daß sie inzwischen zum alten Eisen gehören.«
    »Es war ein Mißverständnis, und dieses Mißverständnis ist nur allzu klar«, bemerkte Wassin gesetzt. »Ihre Mutter sagt, daß nach der grausamen

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