Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
nicht anders als Ihnen zustimmen, aber … so ist es mir lieber, so gefällt es mir besser.«
»Freilich, Geschmacksache. Sie selbst haben mich herausgefordert, ich hätte nichts gesagt.«
»Selbst, wenn es nicht ohne ›Sockel‹ gegangen wäre, selbst dann wäre es mir lieber«, fuhr ich fort, »ein ›Sockel‹ ist zwar ein ›Sockel‹, aber an sich auch sehr wertvoll. Dieser ›Sockel‹ ist ja nichts anderes als das ›Ideal‹, und es ist kaum zu begrüßen, daß es ihn heute in mancher Seele nicht mehr gibt; auch, wenn er sogar ein wenig deformiert wäre – Hauptsache, er ist überhaupt da! Und ganz gewiß denken Sie ebenso, Wassin, mein guter Wassin, mein lieber Wassin! Ach was, ich habe mich natürlich vergaloppiert, aber Sie verstehen mich doch. Dafür sind Sie ja eben Wassin; und ich, ich möchte Sie in jedem Fall umarmen und küssen, Wassin!«
»Vor lauter Freude?«
»Vor lauter großer Freude! Denn dieser Mann ›war tot, und er ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden ‹. Ich bin ein dummer Junge und Ihrer nicht wert. Und ich gestehe das deshalb, weil ich in manchen Augenblicken ganz anders sein kann, höher und tiefer. Weil ich Sie gestern ins Gesicht lobte (und zwar deshalb, weil ich erniedrigt und unter Druck gesetzt wurde), habe ich Sie zwei volle Tage lang gehaßt. Ich habe mir geschworen, in derselben Nacht, Sie niemals wieder aufzusuchen, und bin gestern vormittag nur aus Bosheit bei Ihnen erschienen, verstehen Sie, aus Bosheit. Ich habe hier auf diesem Stuhl gesessen, ganz allein, und Ihr Zimmer kritisiert und Sie und jedes Ihrer Bücher und Ihre Vermieterin bemäkelt. Ich habe versucht, Sie zu verkleinern und auszulachen …«
»Das hätten Sie nicht zu sagen brauchen …«
»Gestern abend, als ich aus einem Ihrer Sätze schließen konnte, daß Sie kein Verständnis für die Frau haben, jubilierte ich, weil ich glaubte, Sie ertappt zu haben. Vorhin, als ich Sie bei dem ›Debut‹ ertappte, war ich wieder hocherfreut, und das alles nur deswegen, weil ich selbst Sie damals über den grünen Klee gelobt hatte …«
»Und warum auch nicht!« rief Wassin endlich aus (er lächelte immer noch, ohne sich im geringsten über mich zu wundern). »Aber so ergeht es doch immer fast allen Menschen, sogar gleich am Anfang, nur will es keiner zugeben, und man braucht es auch gar nicht zuzugeben, weil so etwas in jedem Fall vorübergeht und zu nichts führt.«
»Geht es wirklich allen Menschen so? Sind alle so? Und Sie bleiben ruhig, wenn Sie das sagen? Aber mit einer solchen Ansicht kann man doch unmöglich leben!«
»Und Sie meinen:
Hoch über aller Alltagsweisheit
Ragt, uns erhebend, schöner Schein?«
»Aber das ist doch richtig!« rief ich, »in diesen zwei Zeilen liegt ein heiliges Axiom!«
»Das weiß ich nicht. Ich kann nicht beurteilen, ob diese zwei Zeilen wahr sind oder nicht. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit, wie immer, irgendwo in der Mitte: Das heißt, einerseits ist es heilige Wahrheit, andererseits – Lüge. Ich weiß mit Bestimmtheit nur eins: Dieser Gedanke wird lange einer der wichtigsten Streitpunkte unter den Menschen bleiben. Jedenfalls stelle ich fest, daß es Ihnen nach Tanzen zumute ist: Und warum auch nicht? Tanzen Sie: Bewegung tut gut, aber mir hat man gerade heute vormittag entsetzlich viel Arbeit aufgeladen … und ich habe mich auch Ihretwegen verspätet!«
»Ich gehe, ich gehe, ich bin schon fort! Nur noch ein einziges Wort!« rief ich, den Koffer schon in der Hand. »Wenn ich mich Ihnen gerade schon wieder an den Hals geworfen habe, so einzig deswegen, weil Sie mir, als ich eintrat, mit einem so aufrichtigen Vergnügen diese Tatsache mitgeteilt und sich ›so gefreut‹ haben, daß ich Sie noch zu Haus antraf, und dies kurz nach dem ›Debut‹; durch dieses aufrichtige Vergnügen haben Sie mit einem Schlag mein blutjunges Herz zurückerobert. Also, leben Sie wohl, leben Sie wohl, ich werde mich bemühen, Sie möglichst lange nicht aufzusuchen, weil ich weiß, daß es Ihnen äußerst angenehm sein würde, was ich sogar an Ihren Augen ablese und was uns beiden sogar einen gewissen Vorteil bringen kann …« Unaufhörlich redend, beinahe atemlos von überschäumender Redelust, schleppte ich meinen Koffer hinaus und begab mich auf den Weg zu meinem Quartier. Ich war vor allem deshalb außerordentlich zufrieden, weil Werssilow vorhin sich zweifellos über mich geärgert und mich keines Wortes und keines Blickes gewürdigt
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