Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Also, was ist ein großer Gedanke?«
»Nun, Steine in Brot zu verwandeln – das ist ein großer Gedanke .«
»Der allergrößte? Nein, wahrhaftig, Sie sprechen ja von einem ganzen Weg; sagen Sie doch: der allergrößte?«
»Ein sehr großer, mein Freund, ein sehr großer, aber nicht der allergrößte; ein großer, aber zweitrangiger und nur im gegenwärtigen Augenblick groß: Der Mensch ißt sich satt und weiß von nichts mehr; im Gegenteil, er wird sofort sagen: ›So, nun bin ich satt, und was jetzt?‹ Die Frage bleibt ewig offen.«
»Sie sprachen einmal von den ›Genfer Ideen‹; ich habe nicht verstanden, was sind diese ›Genfer Ideen‹?«
»Die Genfer Ideen – das ist die Tugend ohne Christus, mein Freund, das sind die modernen Ideen oder, besser gesagt, die Ideen der gesamten modernen Zivilisation. Mit einem Wort, es ist eine jener ennuyanten Geschichten, die schon von Anfang an langweilig sind, es wäre sehr viel besser, wenn wir uns über etwas anderes unterhielten, und noch besser, wenn wir über das andere schwiegen.«
»Sie würden am liebsten immer schweigen!«
»Mein Freund, bedenke, daß Schweigen guttut, gefahrlos ist und schön.«
»Schön?«
»Freilich. Schweigen ist immer schön. Und der Schweigende ist immer schöner als der Redende.«
»Aber wenn man spricht, wie wir beide, ist man einem Schweigenden gleich. Zum Teufel mit dieser Schönheit, und erst recht zum Teufel mit diesem Vorteil!«
»Mein Lieber«, sagte er in einem plötzlich leicht veränderten Ton, sogar mit Gefühl und einem besonderen Nachdruck, »mein Lieber, ich habe keineswegs vor, dir statt deiner Ideale irgendeine bürgerliche Tugend schmackhaft zu machen oder dir einzureden, ›Glück ist mehr als Heldentum‹; im Gegenteil, das Heldentum überwiegt jegliches Glück, die bloße Veranlagung dazu ist schon Glück. Darin sind wir uns einig. Ich achte dich gerade dafür so hoch, daß du in unserer der Oxydation anheimgefallenen Zeit in deiner Seele irgendeine ›eigene Idee‹ beherbergst (keine Sorge, ich habe mir alles genau gemerkt). Aber dennoch kommt man nicht umhin, sich einige Gedanken auch über das Maß zu machen, weil es dich geradezu nach Pauken und Trompeten drängt, du möchtest etwas in Feuer und Flamme aufgehen lassen, etwas zerschmettern, ganz Rußland überstrahlen, als Gewitterwolke vorüberjagen, nichts als Schrecken und Begeisterung hinter dir zurücklassen, während du dich selbst in die nordamerikanischen Staaten zurückziehst. Wahrscheinlich brodelt etwas dieser Art in deiner Seele, und deshalb halte ich es für nötig, dich zu warnen, denn ich habe dich aufrichtig in mein Herz geschlossen, mein Lieber.«
Was konnte ich auch damit anfangen? Daraus sprach nur die Sorge um mich, um mein materielles Los; daraus sprach nur der Vater mit all seinen prosaischen, wenn auch noch so wohlwollenden Gefühlen; aber was kümmerte mich das alles angesichts von Ideen, für die jeder ehrenhafte Vater seinen Sohn selbst in den Tod schicken müßte, wie weiland Horatius seine Söhne für die Idee Roms?
Ich setzte ihm oft mit der Religion zu, aber hier war der Nebel am allerdichtesten. Auf die Frage: Wie soll ich mich in diesem Sinn verhalten? – antwortete er mir auf die albernste Weise, wie einem kleinen Jungen: »Man soll an Gott glauben, mein Lieber.«
»Aber wenn ich an all das nun nicht glaube?« rief ich einmal gereizt aus.
»Ausgezeichnet, mein Lieber.«
»Wieso ausgezeichnet?«
»Das ist das beste Zeichen, mein Freund; das zuverlässigste sogar, denn unser russischer Atheist, wenn er nur ein echter Atheist und auch einigermaßen gescheit ist, neigt als der beste Mensch auf der ganzen Welt stets dazu, mit Gott möglichst liebevoll umzugehen, denn er hat in jedem Fall ein gutes Herz, und dies deshalb, weil seine Genugtuung darüber, daß er ein Atheist ist, keine Grenzen kennt. Unsere Atheisten sind ehrenwerte, im höchsten Maße zuverlässige Menschen, sozusagen die Pfeiler des Vaterlandes …«
Das war natürlich nicht nichts, aber ich wünschte mir etwas anderes; nur ein einziges Mal sprach er sich rückhaltlos aus, aber so eigenartig, daß er mich damit am meisten verblüffte, besonders in Anbetracht seiner katholischen Neigungen und der Büßerketten, von denen ich gehört hatte.
»Mein Lieber«, sagte er mir eines Tages, nicht im Hause, sondern irgendwo auf der Straße, nach einem langen Gespräch; ich begleitete ihn. »Mein Freund, die Menschen so zu lieben, wie sie sind, ist
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