Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Bescheidenheit eines solchen Mannes, eines unabhängigen Mannes von Welt, eines solch ausgeprägten Charakters, belebte in meinem Herzen sogleich meine ganze Zärtlichkeit für ihn und meinen ganzen Glauben an ihn. Aber wenn er mich so liebte, warum hat er mich damals, in der Zeit meiner Schmach, nicht zurückgehalten? Ein Wort von ihm hätte genügt – und ich hätte mich möglicherweise beherrscht. Vielleicht auch nicht. Aber er hatte doch diese stutzerhaften Allüren gesehen, diese Angebereien, diesen Matwej (ich wollte ihn sogar einmal in meinem Schlitten nach Hause bringen, aber er stieg nicht ein, und es wiederholte sich sogar, daß er sich weigerte, einzusteigen), er hatte doch gesehen, daß ich das Geld mit beiden Händen zum Fenster hinauswarf – und keine Silbe, keine Silbe, nicht einmal eine interessierte Frage! Das wundert mich bis jetzt, bis heute noch. Ich habe damals vor ihm selbstverständlich keine Umstände gemacht und aus meinem Treiben kein Geheimnis, wiewohl auch ich selbstverständlich keine Silbe zur Erklärung sagte. Er fragte nichts, und ich sagte nichts. Übrigens haben wir uns ein paarmal im Gespräch dem Konkreten genähert. Ich fragte ihn einmal, ganz am Anfang, bald nach seinem Verzicht auf die Erbschaft, wovon er jetzt leben würde?
»Irgendwie, mein Freund«, sagte er in aller Ruhe. Heute weiß ich, daß sogar das winzige Vermögen Tatjana Pawlownas, rund fünftausend, zur Hälfte für Werssilow ausgegeben worden ist, in diesen letzten zwei Jahren. Ein anderes Mal kamen wir irgendwann auf Mama zu sprechen. »Mein Freund«, sagte er plötzlich melancholisch, »ich habe zu Sofja Andrejewna oft gesagt, am Anfang unserer Verbindung, übrigens sowohl am Anfang als auch in der Mitte als auch am Ende: ›Meine Liebe, ich quäle dich und werde dich zu Tode quälen, und ich habe kein Mitleid, solange du bei mir bist; aber solltest du sterben, werde ich mich mit Selbstanklagen zugrunde richten.‹«
An diesem Abend war er, ich weiß es noch, ganz besonders offenherzig:
»Wäre ich doch ein charakterschwaches Nichts, und litte ich doch unter diesem Bewußtsein! Aber nein. Ich weiß doch, daß ich unendlich stark bin. Und wodurch? Was glaubst du? Eben durch diese unmittelbare Kraft der Zähigkeit unter beliebigen Umständen, die allen gescheiten Russen unserer Generation zu eigen ist. Mich kann man nicht zerstören, auf keine Weise ausrotten und durch gar nichts in Erstaunen setzen. Ich bin so zäh wie ein Hofhund. Ich kann mit größtem Behagen zwei entgegengesetzte Empfindungen zur gleichen Zeit empfinden, und dies selbstverständlich absichtslos. Nichtsdestotrotz weiß ich, daß dies ehrlos ist, vor allem deshalb, weil es allzu gescheit ist. Ich habe beinahe fünfzig Jahre hinter mir und weiß immer noch nicht: Ist es gut, daß ich sie hinter mir habe, oder schlecht? Natürlich, ich lebe gern, das ergibt sich ganz von selbst; aber wenn jemand wie ich das Leben liebt – dann ist es eine Niedertracht. In der letzten Zeit zeichnet sich etwas Neues ab, und die Krafts finden sich damit nicht ab, sondern erschießen sich. Aber es ist doch klar, daß die Krafts dumm sind; wir aber, wir sind gescheit – folglich läßt sich hier keine Parallele ziehen, und die Frage bleibt offen. Sollte es möglich sein, daß die Erde nur für solche bestimmt ist wie uns? Vermutlich ja; aber dieser Gedanke ist gar zu trostlos. Aber übrigens … übrigens bleibt diese Frage offen.«
Er sprach melancholisch, und dennoch wußte ich nicht, ob er es aufrichtig meinte oder nicht. Jedesmal machte sich ein besonderer Charakterzug bemerkbar, den er unter allen Umständen beizubehalten wünschte.
IV
Ich habe ihn damals mit Fragen überschüttet, ich habe mich auf ihn gestürzt wie ein Hungriger auf ein Stück Brot. Er antwortete mir stets bereitwillig und offenherzig, endete aber mit den allgemeinsten Aphorismen, so daß man in Wirklichkeit nichts in der Hand hatte. Indessen haben mich alle diese Fragen mein ganzes Leben lang umgetrieben, und ich gestehe, daß ich schon in Moskau ihre Lösung aufgeschoben hatte, bis auf unsere Begegnung in Petersburg. Ich habe ihm dies sogar unverblümt gestanden, und er hat mich nicht ausgelacht, im Gegenteil, er hat mir die Hand gedrückt. Das weiß ich noch. Über Politik im allgemeinen und über soziale Fragen konnte ich ihm trotz meiner Bemühungen fast gar nichts entreißen, dabei waren es gerade diese Fragen, die mich am meisten beschäftigten, insbesondere in Hinblick auf
Weitere Kostenlose Bücher