Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Geld um sich geworfen und sich bis über den Kopf verschuldet. Werssilow hatte ihm schon mehrmals angedeutet, daß das Fürstentum nicht darin bestehe, und sich bemüht, in seinem Herzen eine höhere Auffassung zu wecken; aber der Fürst schien zuletzt übelzunehmen, daß man ihn belehren wolle. Offensichtlich ging es an diesem Morgen auch darum, aber ich hatte den Anfang verpaßt. Werssilows Worte kamen mir zunächst ziemlich rückständig vor, aber mit der Zeit korrigierte er sich.
»Der Begriff ›Ehre‹ bedeutet Pflicht«, sagte er (ich gebe nur den Sinn wieder, und das nur, soweit ich mich überhaupt erinnere). »Solange in einem Staat ein führender Stand dominiert, ist dieses Land stark. Der führende Stand hat immer eine Vorstellung von seiner Ehre und seine Ehrbegriffe, die vielleicht auch fehlerhaft sein mögen, aber fast immer als ein festes Band dienen und das Land stark machen; dies ist von moralischem, aber vorwiegend politischem Nutzen. Aber darunter haben die Sklaven zu leiden, das heißt alle, die nicht zu dem führenden Stand gehören. Damit sie nicht leiden, werden sie als gleichberechtigt proklamiert. Das hat man auch bei uns eingeführt, und das ist ausgezeichnet. Aber alle Erfahrungen zeigen, daß überall (das heißt in Europa) die Gleichberechtigung von einem Schwinden des Ehrgefühls begleitet wird, folglich auch des Pflichtgefühls. Anstelle der früheren Idee ist der Egoismus getreten, alles zerfällt und nennt sich persönliche Freiheit. Die Befreiten, ohne die konsolidierende Idee geblieben, verloren nach und nach jede höhere Orientierung, so weit, daß sie sogar aufhörten, auf ihrer neugewonnenen Freiheit zu bestehen. Aber der russische Typ des Adels hatte mit dem europäischen nie etwas gemein. Unser Adel könnte auch noch heute, da er seine Rechte eingebüßt hat, der höchste Stand bleiben, als Wahrer von Ehre, Licht, Wissenschaft und der höchsten Idee, aber vor allem nicht mehr als abgeschlossene Kaste, was den Tod der Idee bedeuten würde. Im Gegenteil, das Tor zu diesem Stand ist bei uns schon seit längerem geöffnet: Jetzt aber ist es an der Zeit, es endgültig aufzustoßen. Möge jede große Tat auf dem Felde der Ehre, der Wissenschaft und des Mutes jedem von uns das Recht geben, sich der führenden Schicht anzuschließen. Auf diese Weise würde sich der Stand von sich aus in eine Gemeinschaft der Besten verwandeln im buchstäblichen und wahrhaften Sinn und nicht mehr in dem veralteten, dem einer privilegierten Kaste. In diesem neuen, besser gesagt, erneuerten Sinn könnte sich der Stand erhalten.«
Der Fürst fletschte die Zähne.
»Aber was für ein Adel wird das schon sein? Sie projektieren ja eine Freimaurerloge und nicht einen Adel.«
Ich wiederhole, der Fürst war furchtbar ungebildet. Vor lauter Ärger drehte ich mich sogar auf meinem Diwan um, obwohl ich Werssilow nicht in allem zustimmte. Werssilow hatte sehr gut verstanden, daß der Fürst ihm die Zähne zeigte.
»Ich weiß nicht, was Sie unter Freimaurerei verstehen«, antwortete er. »Übrigens, wenn sogar ein russischer Fürst sich von einer solchen Idee distanziert, so ist selbstverständlich ihre Zeit noch nicht gekommen. Die Idee von Ehre und Aufklärung als ein Vermächtnis für jeden, der sich einem offenen und fortwährend sich erneuernden Stand anschließen möchte, ist natürlich eine Utopie, aber warum sollte sie unmöglich sein? Wenn dieser Gedanke lebt, und sei es auch nur in wenigen Köpfen, so ist er noch nicht untergegangen, sondern leuchtet wie ein feuriger Punkt in tiefster Finsternis.«
»Sie gebrauchen mit Vorliebe solche Worte wie ›höherer Gedanke‹, ›großer Gedanke‹, ›konsolidierende Idee‹ und so ähnlich; ich möchte gern wissen, was Sie eigentlich unter dem Wort ›großer Gedanke‹ verstehen?«
»Wirklich, ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf antworten soll, mein lieber Fürst«, erwiderte Werssilow mit einem feinen Lächeln. »Wenn ich Ihnen gestehe, daß ich es selbst nicht beantworten kann, so käme ich der Wahrheit am nächsten. Ein großer Gedanke – das ist am häufigsten ein Gefühl, das mitunter lange unbestimmt bleibt. Ich weiß nur, daß es immer dasjenige gewesen ist, dem das lebendige Leben entströmte, das heißt, nicht intellektuell und auch nicht zusammenphantasiert, sondern, im Gegenteil, vielfältig und heiter; also ist die höhere Idee, der es entströmt, absolut unentbehrlich, zu allgemeinem Verdruß natürlich.«
»Wieso zum Verdruß?«
»Weil
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