Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
letzten Aktes, der Vorhang fällt. Dieser letzte Akt hat sich lang hingezogen. Begonnen hat er vor sehr langer Zeit – damals habe ich alles stehen- und liegenlassen, und du, mein Lieber, mußt wissen, daß ich damals deine Mama verlassen und sie darüber persönlich aufgeklärt habe, du mußt es wissen. Ich habe ihr damals erklärt, daß ich für immer wegginge, daß sie mich nie wiedersehen würde. Das schlimmste war, daß ich sogar vergessen habe, sie mit Geld zu versorgen. An dich dachte ich ebenfalls keinen Augenblick. Ich verreiste, um für immer in Europa zu bleiben. Ich emigrierte.«
»Zu Herzen ? Um sich im Ausland an der Propaganda zu beteiligen? Sie waren bestimmt Ihr Leben lang an einem Geheimbund beteiligt?« rief ich, nun ohne mich beherrschen zu können.
»Nein, mein Freund, ich war nie an einem Geheimbund beteiligt. Aber deine Augen funkeln sogar; ich liebe deine Ausrufe, mein Lieber. Ich bin damals einfach aus lauter Melancholie geflohen, aus einer plötzlichen Melancholie. Es war die Melancholie eines russischen Adligen – wirklich, ich kann es nicht besser ausdrücken, der adlige Weltschmerz und nichts weiter.«
»Die Leibeigenschaft … die Bauernbefreiung?« murmelte ich vorschnell, mit angehaltenem Atem.
»Leibeigenschaft? Glaubst du etwa, ich hätte der Leibeigenschaft nachgeweint? Und die Bauernbefreiung übelgenommen? O nein, mein Freund, gerade wir waren ja die Befreier. Ich emigrierte ohne jeden Groll. Ich war ja bis zuletzt Friedensrichter und hatte mich nicht geschont, mein Einsatz war völlig selbstlos, und ich emigrierte sogar nicht einmal deswegen, weil meinem Liberalismus nur ein karger Lohn beschieden war. Wir alle wurden damals nur karg belohnt, das heißt solche, wie ich einer war. Ich emigrierte eher aus Stolz als aus Reue und, glaub mir, weit entfernt von dem Gedanken, die Stunde habe geschlagen, um mein Leben als bescheidener Schuster zu beschließen. Je suis gentilhomme avant tout et je mourrai gentilhomme ! Aber ich war dennoch traurig. Wir sind in Rußland vielleicht an die tausend Menschen; tatsächlich, kaum mehr, aber das ist mehr als genug, um eine Idee nicht untergehen zu lassen. Wir – wir sind Träger einer Idee, mein Lieber! … Mein Freund, ich spreche in der sonderbaren Hoffnung, du könntest dieses Galimathias verstehen. Ich rief dich aus einer Laune meines Herzens: Mir träumte lange schon davon, wie ich dir etwas sagen könnte … dir, gerade dir! Übrigens … übrigens …«
»Nein, sprechen Sie«, rief ich, »ich sehe wieder Aufrichtigkeit in Ihrem Gesicht … Wie war es, hat Europa Sie damals wieder zum Leben erweckt? Und was ist eigentlich Ihr ›adliger Weltschmerz‹? Entschuldigen Sie, ich habe das noch nicht verstanden.«
»Ob mich Europa wieder zum Leben erweckt hat? Aber ich bin doch damals selbst zu seinem Begräbnis gefahren!«
»Begräbnis?« wiederholte ich erstaunt.
Er lächelte.
»Mein Freund, Arkadij, meine Seele ist jetzt voller Wohlgefallen und mein Geist in Aufruhr. Ich werde meine damaligen ersten Augenblicke in Europa niemals vergessen. Ich hatte auch vorher hin und wieder in Europa gelebt, aber diesmal war es eine ganz besondere Zeit, und niemals vorher hatte ich mit einer so hoffnungslosen Trauer und einer solchen Liebe seinen Boden betreten wie zu jener Zeit. Ich möchte dir jetzt von einem meiner ersten damaligen Eindrücke erzählen, einem Traum von damals, einem wirklichen Traum. Es war noch in Deutschland. Ich hatte eben erst Dresden verlassen und fuhr in meiner Zerstreutheit über die Bahnstation, wo ich umsteigen mußte, hinaus und geriet auf eine andere Strecke. Man ließ mich sogleich aussteigen; es war drei Uhr mittags, ein klarer Tag. Ein winziges deutsches Städtchen. Man zeigte mir einen Gasthof. Ich mußte warten: Der nächste Zug ging erst um elf Uhr in der Nacht. Ich war sogar froh über dieses Abenteuer, denn ich hatte keine besondere Eile. Ich war auf einem meiner Streifzüge, mein Freund. Das Gasthaus erwies sich als armselig und klein, aber mitten im Grün und rings von Blumenbeeten umgeben, wie es bei ihnen üblich ist. Man wies mir ein enges Zimmer an, und da ich die ganze Nacht unterwegs gewesen war, schlief ich gegen vier Uhr nachmittags ein.
Ich hatte einen für mich völlig verblüffenden Traum , wie ich noch nie einen geträumt hatte. In Dresden, in der Galerie, befindet sich ein Gemälde von Claude Lorrain , im Katalog als ›Acis und Galathea‹ aufgeführt; ich aber habe es stets ›Das
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