Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Holzrahmen – das Gesicht eines jungen Mädchens, mager, von Tuberkulose gezeichnet und trotzdem sehr schön; es war nachdenklich und gleichzeitig auffallend gedankenlos. Regelmäßige Züge eines durch Generationen hochgezüchteten Typus, die allerdings einen krankhaften Eindruck machten: Es sah so aus, als wäre dieses Wesen plötzlich von einem starren Gedanken überwältigt worden, der um so quälender war, weil er über seine Kräfte ging.
»Ist das … Ist das jenes junge Mädchen, das Sie dort heiraten wollten und das an der Schwindsucht starb … ihre Stieftochter?« fragte ich ein wenig schüchtern.
»Ja, die ich heiraten wollte, die an der Schwindsucht starb, ihre Stieftochter. Ich wußte, daß du ihn kennst … diesen ganzen Klatsch. Du hättest übrigens außer Klatsch nichts erfahren können. Laß das Porträt, mein Freund, das ist eine arme Verrückte und nichts weiter.«
»Richtig verrückt?«
»Oder eine Idiotin; ich glaube übrigens, daß sie außerdem verrückt war. Sie bekam ein Kind vom Fürsten Sergej Petrowitsch (weil sie verrückt war, nicht aus Liebe; das ist eine der niederträchtigsten Handlungen des Fürsten Sergej Petrowitsch); das Kind ist jetzt hier im Nebenzimmer, ich habe mir schon lange gewünscht, es dir zu zeigen. Fürst Sergej Petrowitsch darf nicht hierherkommen und das Kind sehen; das hatte ich mit ihm bereits im Ausland vereinbart. Ich habe es angenommen, mit Erlaubnis deiner Mutter. Mit der Erlaubnis deiner Mutter wollte ich auch damals diese Unglückliche … heiraten …«
»Ist denn eine solche Erlaubnis überhaupt denkbar?« fragte ich heftig.
»O ja, sie hat es mir erlaubt: Man ist auf Frauen eifersüchtig, jene aber war keine Frau.«
»Sie war keine Frau für alle, außer Mama! Um nichts auf der Welt werde ich glauben, daß Mama nicht eifersüchtig war!« rief ich.
»Und du hast recht. Ich bin dahintergekommen, als alles bereits vorbei war, nachdem sie mir ihre Einwilligung gegeben hatte. Aber lassen wir das. Es kam nicht dazu, weil Lidija starb, und vielleicht wäre es auch nicht dazu gekommen, wenn sie am Leben geblieben wäre, Mama aber lasse ich auch heute noch nicht zu dem Kind. Das war nur eine Episode. Mein Lieber, ich habe dich seit langem hier erwartet. Ich habe schon lange davon geträumt, daß wir uns hier begegnen; weißt du, wie lange? Ich habe schon seit zwei Jahren davon geträumt.«
Er warf mir einen aufrichtigen und herzlichen Blick zu, voll rückhaltloser Hingabe. Ich packte ihn bei der Hand:
»Warum haben Sie gezögert? Warum haben Sie mich nicht längst gerufen? Wenn Sie wüßten, was alles geschehen ist … Und was nicht geschehen wäre, wenn Sie mich schon längst geholt hätten!«
In diesem Augenblick brachte man den Samowar, und Nastassja Jegorowna erschien plötzlich mit dem schlafenden Kind.
»Sieh es dir an«, sagte Werssilow, »ich habe es gern und habe veranlaßt, es jetzt zu bringen, damit du es dir ansiehst. So, und jetzt bringen Sie es wieder fort, Nastassja Jegorowna. Setz dich zum Samowar, und ich werde mir ausmalen, daß wir schon ewig zusammengelebt und uns jeden Abend hier vereint hätten, ohne uns je zu trennen. Laß mich dich anschauen: Setz dich hierhin, damit ich dein Gesicht sehen kann. Wie ich es liebe, dein Gesicht! Wie habe ich mir dein Gesicht ausgemalt, noch als ich dich aus Moskau erwartete! Du fragst, warum ich dich nicht schon längst habe kommen lassen? Warte, auch das wirst du vielleicht jetzt verstehen.«
»Kann denn das sein, daß nur der Tod dieses alten Mannes Ihnen jetzt die Zunge gelöst hat? Sonderbar …«
Wenn ich das auch sagte, sah ich ihn doch liebevoll an. Wir sprachen wie zwei Freunde, im höchsten und vollsten Sinne des Wortes. Er hatte mich hierhergeführt, um mir etwas zu erklären, zu erzählen, zu rechtfertigen; indessen war, noch bevor die Worte fielen, alles erklärt und rechtfertigt. Was ich auch von ihm jetzt hören würde – das Resultat war bereits erreicht, wir beide waren uns dessen bewußt und sahen uns glückserfüllt an.
»Nicht eigentlich der Tod dieses alten Mannes«, antwortete er, »nicht nur der Tod; es ist auch etwas anderes, was eben jetzt damit zusammenfällt … Gottes Segen über diesen Augenblick und über unser Leben, hinfort und für alle Zeit! Mein Lieber, laß uns sprechen. Ich verliere immer wieder den Faden, schweife ab, möchte von etwas Bestimmtem sprechen und bleibe in tausend nebensächlichen Details stecken. So geht es immer, wenn das Herz
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