Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
goldene Zeitalter‹ genannt, ich weiß selbst nicht, warum. Ich hatte es auch schon früher gesehen und jetzt, vor drei Tagen, auf der Durchreise, noch einmal betrachtet. Und ebendieses Gemälde sah ich im Traum, aber nicht als Bild, sondern als ob es eine Wirklichkeit wäre. Ich weiß übrigens nicht, was ich im einzelnen träumte: Genau wie auf dem Gemälde – einen Winkel des griechischen Archipels, wobei auch die Zeit dreitausend Jahre zurückzuliegen schien; lichtblaue, liebkosende Wellen, Inseln und Klippen, ein blühendes Gestade, ein zauberhaftes Panorama in der Ferne, die dorthin lockende untergehende Sonne – mit Worten nicht wiederzugeben. Hier hat, wie die europäische Menschheit sich erinnert, ihre Wiege gestanden, und dieser Gedanke erfüllte auch meine Seele mit inniger Liebe. Hier war das irdische Paradies der Menschheit: Götter stiegen vom Himmel herab und vereinten sich mit den Menschen … Oh, hier lebten herrliche Menschen! Glücklich und unschuldig schliefen sie ein und wachten sie auf; Wiesen und Haine hallten wider von ihren Liedern und fröhlichen Rufen; der gewaltige Überschuß unversieglicher Kräfte verströmte in Liebe und treuherziger Freude. Die Sonne übergoß sie mit Wärme und Licht, voll Freude über ihre schönen Kinder … Ein wunderbarer Traum, ein erhabener Irrtum der Menschheit! Das goldene Zeitalter – der unwahrscheinlichste aller Träume, die es je gegeben hat, für den aber die Menschen ihr ganzes Leben und alle ihre Kräfte opferten, für den die Propheten starben und ermordet wurden und ohne den die Völker nicht leben wollen und nicht einmal sterben können! Und diese ganze Empfindung habe ich in diesem Traum gleichsam durchlebt: Klippen und Meer und die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne – all das glaubte ich noch zu sehen, als ich erwachte und die Augen aufschlug, die buchstäblich tränennaß waren. Ich erinnere mich, ich war froh. Die Empfindung eines mir noch unbekannten Glücks durchzog mein Herz fast schmerzhaft; es war die allmenschliche Liebe. Es war schon Abend; in das Fenster meines kleinen Zimmers, durch das Grün der vor dem Fenster stehenden Blumen, brach ein Bündel Sonnenstrahlen herein und übergoß mich mit Licht. Und da, mein Freund, und da – diese untergehende Sonne des ersten Tages der europäischen Menschheit, die ich in meinem Traum gesehen hatte, verwandelte sich für mich sofort, kaum daß ich erwachte, in die real untergehende Sonne des letzten Tages der europäischen Menschheit. Gerade damals war über Europa so etwas wie der Klang einer Totenglocke zu hören. Ich spreche nicht nur von Krieg und nicht nur von den Tuilerien; ich wußte ohnehin, daß alles vergehen wird, das ganze Antlitz der europäischen Alten Welt – ob früher oder später, aber das konnte ich als russischer Europäer nicht zulassen. Ja, sie hatten damals gerade die Tuilerien in Schutt und Asche gelegt … Oh, rege dich nicht auf, ich weiß, daß dies ›logisch‹ war, ich verstehe nur zu gut die Unwiderstehlichkeit einer mitreißenden Idee, aber als Träger des höchsten russischen Kulturgedankens konnte ich das nicht zulassen, weil der höchste russische Gedanke in der Allversöhnung der Ideen besteht. Und wer in der ganzen Welt hätte damals einen solchen Gedanken verstehen können: Ich streifte damals allein durch die Welt: Ich meine damit nicht mich persönlich – ich meine den russischen Gedanken . Dort gab es Streit und Logik; dort war ein Franzose nur Franzose und ein Deutscher nichts als ein Deutscher, und dies mit der höchsten Intensität, höher als während ihrer ganzen Geschichte; das bedeutet, daß ein Franzose seinem Frankreich und ein Deutscher seinem Deutschland niemals einen größeren Schaden zugefügt haben als gerade in dieser Zeit! Damals gab es in ganz Europa nicht einen einzigen Europäer! Nur ich allein, ich allein unter all diesen Brandstiftern, konnte ihnen ins Gesicht sagen, daß ihre Tuilerien – ein Fehler war; und nur ich, ich allein unter diesen Konservativen und Rachsüchtigen, konnte diesen Rachsüchtigen sagen, daß die Tuilerien zwar ein Verbrechen, aber dennoch logisch waren. Und zwar deshalb, mein Junge, weil ich als Russe damals in Europa der einzige Europäer war. Ich spreche nicht von mir – ich spreche von dem russischen Gedanken. Ich streifte umher, mein Freund, ich streifte umher, in dem festen Wissen, daß ich zu schweigen und umherzustreifen habe. Und dennoch war es mir schwer ums Herz. Ich kann
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