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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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ich plötzlich hinzu, »mir scheint, daß Sie ungeachtet all Ihrer Sehnsucht damals außerordentlich glücklich gewesen sein müssen?«
    Er lachte vergnügt.
    »Deine Bemerkungen sind heute besonders treffend«, sagte er. »Na ja, ich war glücklich, aber wie hätte ich auch mit einer solchen Sehnsucht unglücklich sein sollen? Es gibt niemand, der freier und glücklicher ist als ein russischer Europa-Vagabund aus unserem Tausend. Das meine ich wirklich im Ernst, ich lache nicht, das ist kein Spaß. Ich hätte ja auch meine Sehnsucht gegen kein anderes Glück auf der Welt eingetauscht. In diesem Sinne bin ich stets glücklich gewesen, mein Lieber, mein Leben lang, und vor lauter Glück habe ich damals deine Mama liebgewonnen, das erste Mal in meinem Leben.«
    »Wieso ›das erste Mal im Leben‹?«
    »Das ist es ja. Umherstreifend und voll Sehnsucht gewann ich sie plötzlich so lieb wie noch nie und befahl, sie sofort zu holen.«
    »Oh, erzählen Sie mir davon! Erzählen Sie mir von Mama!«
    »Aber auch dazu habe ich dich ja gerufen, und weißt du«, lächelte er heiter, »ich habe schon befürchtet, du hättest mir die Mama um Herzens oder eines kümmerlichen Geheimbundes willen vergeben …«

Achtes Kapitel
    I
    Da wir damals den ganzen Abend gesprochen und bis in die Nacht beisammengesessen haben, will ich nicht alle Reden anführen, sondern nur das wiedergeben, was mir endlich einen rätselhaften Punkt in seinem Leben erklärte.
    Ich beginne damit, daß ich nicht im geringsten bezweifle, daß er Mama geliebt hat, und wenn er sie auch verlassen und sich von ihr »geschieden« hat und davongefahren ist, so ganz gewiß nur deshalb, weil er von Langeweile oder etwas Ähnlichem überwältigt wurde, was übrigens jedem auf der Welt passieren kann, was sich aber kaum erklären läßt. Im Ausland, übrigens nach längerer Zeit, erwachte plötzlich seine Liebe zu Mama aufs neue, in der Ferne, das heißt in seinen Gedanken, und er ließ sie holen. Man könnte sagen, es sei eine »Laune« gewesen, ich aber sage etwas anderes: Meiner Meinung nach trat dabei alles in Erscheinung, was es nur Ernstes in einem Menschenleben geben kann, trotz einer unübersehbaren Arroganz, die ich zum Teil zugeben muß. Aber ich schwöre, daß ich seinen europäischen Schmerz zweifellos nicht nur für bloß gleichwertig, sondern für unvergleichlich höher halte als eine beliebige zeitgenössische praktische Tätigkeit, etwa den Bau eines Eisenbahnnetzes. In seiner Liebe zur Menschheit erkenne ich das aufrichtigste und tiefste Gefühl, ohne jeden Hokuspokus, und in seiner Liebe zu Mama etwas völlig Unbestreitbares, wenn auch vielleicht ein wenig Phantastisches. Im Ausland, in »Sehnsucht und Glück«, und, das sei hinzugefügt, in strengster mönchischer Einsamkeit (diese spezielle Auskunft erhielt ich später von Tatjana Pawlowna), erinnerte er sich plötzlich an Mama – er erinnerte sich gerade an »ihre eingefallenen Wangen« und ließ sie sofort holen.
    »Mein Freund«, entschlüpfte es ihm unter anderem, »plötzlich war mir aufgegangen, daß mein Dienst an der Idee mich als moralisch vernünftiges Wesen keineswegs von der Pflicht entbindet, im Laufe meines Lebens wenigstens einen Menschen praktisch glücklich zu machen.«
    »Ist es denn möglich, daß ein solcher Büchergedanke zur eigentlichen Ursache für alles geworden ist?« fragte ich verständnislos.
    »Das ist kein Büchergedanke. Übrigens, vielleicht doch. Hier kommt nämlich alles zusammen: Ich habe deine Mama tatsächlich geliebt, aufrichtig, nicht nach dem Buch. Hätte ich sie nicht so geliebt – dann hätte ich nicht nach ihr geschickt, sondern den ersten besten Deutschen oder eine Deutsche, die mir über den Weg gelaufen wäre, ›glücklich gemacht‹, da ich nun einmal auf diese Idee gekommen war. Aber für jeden denkenden Menschen würde ich als Gebot verkünden: Unbedingt wenigstens ein einziges Wesen im Laufe seines Lebens glücklich zu machen, aber in jedem Fall praktisch, das heißt in Wirklichkeit – das würde ich zum Gebot eines jeden entwickelten Menschen machen; ebenso ein Gesetz, das jeden Bauern verpflichtet, im Laufe seines Lebens einen Baum zu pflanzen, angesichts der Abholzung russischer Wälder; übrigens würde ein einziger Baum nicht ausreichen, vielleicht müßte man gebieten, jedes Jahr einen Baum zu pflanzen. Der höhere und entwickelte Mensch, der einem höheren Gedanken nachgeht, verliert gelegentlich das Konkrete aus den Augen, wird

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