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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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dem ich sie verließ, betrat ich ihr Zimmer und fand sie allein an ihrem Nähtischchen, aber ohne zu arbeiten, den Ellbogen auf das Tischchen gestützt und tief in Gedanken versunken. Es kam bei ihr fast niemals vor, daß sie so untätig dasaß. Zu jener Zeit hatte ich schon seit langem aufgehört, zärtlich mit ihr zu sein. Und da gelang es mir, ganz leise, auf Zehenspitzen, mich ihr zu nähern, sie plötzlich zu umarmen und zu küssen … Sie sprang auf – und niemals werde ich diese Freude, dieses Glück in ihrem Gesicht vergessen, aber es veränderte sich jäh, sie errötete, und ihre Augen funkelten: Und weißt du, was ich in diesem funkelnden Blick gelesen habe? ›Ein Almosen hast du mir gereicht, das war es!‹ Sie brach in ein hysterisches Schluchzen aus, als hätte ich sie erschreckt, ich aber habe mir schon damals meine Gedanken gemacht. Und überhaupt sind alle diese Erinnerungen etwas sehr Schweres, mein Freund. Das ist so wie mit manchen schmerzhaften Szenen in den Poemen großer Künstler, an die man sich sein Leben lang nur mit Schmerzen erinnert – zum Beispiel an Othellos letzten Monolog, an Ewgenij zu Tatjanas Füßen oder an die Begegnung des flüchtigen Zuchthäuslers mit dem Kind, dem kleinen Mädchen, in nächtlicher Kälte am Brunnen in Victor Hugos »Les Misérables«; sie treffen einen mitten ins Herz, und die Wunde bleibt ewig offen. Oh, wie habe ich auf Sonja gewartet und wie brennend gewünscht, sie so schnell wie möglich in die Arme zu schließen! Mit krampfhafter Ungeduld träumte ich von einem ganzen neuen Lebensprogramm; ich träumte von einer allmählichen methodischen Bemühung, mit der ich in ihrer Seele diese ständige Furcht vor mir überwinden, sie von ihrem eigenen Wert und sogar von ihrer Überlegenheit mir gegenüber überzeugen würde. Oh, ich wußte schon damals nur zu gut, daß ich deine Mama immer zu lieben beginne, sobald wir uns trennen, und daß meine Liebe plötzlich erkaltet, wenn wir vereint sind; hier aber war es nicht so, damals war es nicht so.«
    Ich wunderte mich: “Und sie?” ging es mir durch den Kopf.
    »Nun, und wie war es, wie war Ihre Begegnung mit Mama?« fragte ich vorsichtig.
    »Damals bin ich ihr gar nicht begegnet. Sie war damals gerade bis Königsberg gekommen und ist auch dort geblieben, und ich war am Rhein. Ich bin nicht zu ihr gereist, sondern habe ihr befohlen, dort zu bleiben und auf mich zu warten. Wir sahen uns erst bedeutend später wieder, oh, viel später, als ich zu ihr fuhr, um sie um ihre Erlaubnis zu einer Heirat zu bitten …«
    II
    Hier werde ich nur das Wesentliche wiedergeben, das heißt nur das, was ich mir merken konnte; zumal er von nun an zunehmend zusammenhanglos erzählte. Seine Rede wurde plötzlich zehnmal zusammenhangloser und sprunghafter, nachdem er an diesem Punkt angelangt war.
    Er war Katerina Nikolajewna unverhofft begegnet, ausgerechnet damals, als er Mama erwartete, in dem ungeduldigsten Moment der Erwartung. Sie alle befanden sich damals am Rhein, in einem Heilbad, und machten eine Kur. Katerina Nikolajewnas Gatte war schon so gut wie tot, wenigstens von den Ärzten bereits aufgegeben. Von der ersten Begegnung an war er von ihr hingerissen, gleichsam verzaubert. Das war das Fatum. Es ist bemerkenswert, daß ich, während ich dies niederschreibe und mir wieder in Erinnerung rufe, mich nicht erinnern kann, daß er damals, in seiner Erzählung, wenigstens ein einziges Mal das Wort »Liebe« gebraucht oder seine Verliebtheit erwähnt hatte. An das Wort »Fatum« erinnere ich mich sehr wohl.
    Und es war das Fatum, das stimmt. Er hat es nicht gewollt, »er wollte nicht lieben«. Ich weiß nicht, ob es mir gelingt, dies klar wiederzugeben; aber seine ganze Seele empörte sich eben gegen die Tatsache, daß ihm so etwas widerfahren konnte. Alles nämlich, was in ihm frei war, wurde mit einem Schlag vor dieser Begegnung zunichte, und ein Mann war auf ewig an eine Frau gekettet, die von ihm nicht das geringste wissen wollte. Er lehnte sich gegen diese Versklavung durch Leidenschaft auf. Ich sage jetzt unumwunden: Katerina Nikolajewna ist ein seltener Typ einer Dame von Welt – ein Typ, der in diesem Kreis möglicherweise gar nicht vorkommt. Es ist der Typ einer in höchstem Grade einfachen und freimütigen Frau. Ich habe gehört, das heißt, ich weiß es gewiß, daß sie gerade dadurch in der großen Welt, falls sie dort erschien (sie pflegte des öfteren sich völlig zurückzuziehen), so unwiderstehlich wirkte.

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