Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Werssilow hatte damals, bei der ersten Begegnung, selbstverständlich nicht geglaubt, daß sie so sei, sondern vielmehr das Gegenteil, das heißt – eine Heuchlerin und Jesuitin. Ich möchte hier vorgreifen und ihre eigene Meinung über ihn anführen: Sie behauptete fest, daß er »von ihr nichts anderes habe denken können, weil ein Idealist, der mit der Stirn gegen die Wirklichkeit rennt, eher als jeder andere, immer dazu neigt, jede Abscheulichkeit anzunehmen«. Ich weiß nicht, ob dies für die Idealisten im allgemeinen zutrifft, aber für ihn trifft es uneingeschränkt zu. Ich notiere hier, zugegeben, meine eigene Meinung, die mir durch den Kopf ging, während ich ihm damals zuhörte: Ich dachte mir, er habe Mama eher mit einer sozusagen humanen und allgemein menschlichen Liebe geliebt als mit der einfachen Liebe, mit der man Frauen gewöhnlich liebt, und habe sich, sobald er einer Frau begegnete, die diese einfache Liebe in ihm weckte, auf der Stelle dieser Liebe verweigert – höchstwahrscheinlich aus mangelnder Gewohnheit. Übrigens könnte dieser Gedanke auch unzutreffend sein; ihm habe ich ihn natürlich nicht unterbreitet. Das wäre taktlos gewesen; und ich kann es beschwören, er befand sich in einer solchen Verfassung, daß man ihn beinahe schonend behandeln mußte: Er war erregt; an manchen Stellen seiner Erzählung brach er einfach ab und schwieg minutenlang, während er mit einem unguten Gesicht im Zimmer auf und ab lief.
Sie hatte damals sein Geheimnis bald durchschaut und vielleicht absichtlich mit ihm kokettiert: Sogar die lichtesten Frauen können in ähnlichen Fällen gemein werden, und zwar aus einem ihnen eigenen unüberwindlichen Instinkt. Das Ende war ein erbittertes Zerwürfnis, er wollte, glaube ich, sie umbringen, er erschreckte sie und hätte sie möglicherweise umgebracht; »aber plötzlich schlug alles in Haß um«. Und dann brach eine seltsame Periode an: Er faßte den seltsamen Vorsatz: sich selbst eine Disziplin aufzuerlegen, »und zwar diejenige, die die Mönche üben. Man erringt fortschreitend in methodischer Praxis Gewalt über seinen Willen, beginnend mit völlig komischen und banalen Dingen und endend mit vollkommener Beherrschung des eigenen Willens und dem Gewinnen der Freiheit«. Er fügte hinzu, daß dies unter Mönchen eine ernste Sache sei, weil sie durch tausendjährige Tradition zu einer Wissenschaft geworden ist. Aber bemerkenswerterweise verfiel er damals auf diese Idee der »Disziplin« keineswegs mit der Absicht, sich von Katerina Nikolajewna zu befreien, sondern in der vollen Überzeugung, daß er sie nicht nur nicht mehr liebe, sondern sogar in höchstem Maße hasse. Er glaubte so sehr an diesen Haß, daß er plötzlich sogar auf den Gedanken kam, sich zu verlieben und ihre vom Fürsten verführte Stieftochter zu ehelichen, er redete sich seine neue Liebe regelrecht ein und machte die arme Idiotin über beide Ohren in sich verliebt, wobei er ihr durch diese Liebe in ihren letzten Lebensmonaten das vollkommenste Glück bescherte. Warum er damals statt ihrer sich nicht an Mama erinnerte, die immer noch in Königsberg auf ihn wartete – das ist mir unerklärlich geblieben … Noch mehr, er hatte Mama plötzlich und völlig vergessen und ihr nicht einmal Geld für den Lebensunterhalt geschickt, so daß Tatjana Pawlowna sie damals retten mußte; allerdings machte er sich plötzlich auf den Weg zu Mama, um »ihre Erlaubnis zu erbitten«, jene junge Dame zu heiraten, unter dem Vorwand, daß »eine solche Braut keine Frau« sei. Oh, vielleicht gehört das alles nur zu dem Porträt des »Büchermenschen«, wie Katerina Nikolajewna ihn später bezeichnete; aber wie kommt es, daß diese »Papiermenschen« (wenn es schon stimmen sollte, daß sie Papier sind) solcher wirklichen Qualen fähig sind und solche Tragödien heraufbeschwören? Übrigens dachte ich an jenem Abend allerdings anders und war von dem Gedanken erschüttert:
»Sie haben Ihre ganze Entwicklung, Ihre ganze Seele durch Leiden und durch ständigen Lebenskampf erkauft – sie aber ist gratis zu ihrer Vollkommenheit gelangt. Das sind ungleiche Voraussetzungen … Das ist das Empörende an der Frau.« Ich sagte das keineswegs, um mich einzuschmeicheln, sondern mit vollster Überzeugung und sogar mit Entrüstung.
»Vollkommenheit? Ihre Vollkommenheit? Aber sie besitzt überhaupt keine Vollkommenheiten!« sagte er plötzlich, als wunderte er sich über meine Worte. »Sie ist die gewöhnlichste Frau, sie
Weitere Kostenlose Bücher