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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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beigelegt. Nach den Flüchen, Pfiffen und dem Kot ist ein Waffenstillstand eingetreten, und die Menschen sind, wie sie es wollten, allein: Die große Idee von ehedem hat sie verlassen; die große Quelle der Kräfte, die sie bis jetzt genährt und gewärmt hat, versiegte wie jene erhabene, in die Ferne lockende Sonne auf dem Gemälde von Claude Lorrain, aber dies war gleichsam der letzte Tag der Menschheit. Und plötzlich verstanden die Menschen, daß sie ganz allein geblieben sind, und spürten auf einmal ihre große Verlassenheit. Mein lieber Junge, es wollte mir niemals gelingen, mir die Menschen undankbar und verblödet vorzustellen. Die Verwaisten würden sich sofort besinnen und sich immer enger und liebevoller zusammendrängen; sie würden sich bei den Händen fassen in der Einsicht, daß sie erst jetzt einander alles bedeuteten. Die große Idee der Unsterblichkeit würde verlöschen und müßte ersetzt werden; und der ganze üppige Überfluß der einstigen Liebe zu Dem, der die Unsterblichkeit war, würde sich bei allen über die Natur, die Welt, die Menschen, über jeden Grashalm ergießen. Sie würden sich der Erde und dem Leben in rückhaltloser Liebe zuwenden, in demselben Maße, wie sie sich der eigenen Endlichkeit und Vergänglichkeit bewußt wurden, und zwar in einer ganz besonderen, nicht mehr in der einstigen Liebe. Sie würden in der Natur Erscheinungen und Geheimnisse beobachten und erkennen, die sie zuvor nicht einmal geahnt hatten, weil sie nun die Natur mit neuen Augen betrachten würden, mit dem Blick des Geliebten auf seine Geliebte. Sie würden erwachen und sich beeilen, einander zu küssen, im Bewußtsein, daß die Tage gezählt sind und daß dies das einzige ist, was ihnen bleibt. Sie würden füreinander arbeiten, und jeder würde jedem alles gönnen, was er besitzt, und wäre einzig und allein dadurch glücklich. Jedes Kind würde wissen und spüren, daß alle und jeder auf Erden ihm Vater und Mutter sind. ›Und wenn morgen mein letzter Tag kommen sollte‹, würde jeder mit dem Blick auf die Abendsonne denken, ›soll es mir recht sein, ich werde sterben, sie alle aber werden bleiben und nach ihnen ihre Kinder‹ – und dieser Gedanke, daß sie bleiben werden, in steter gegenseitiger Liebe und Sorge, würde den Gedanken an eine Wiederbegegnung im Jenseits ersetzen. Oh, sie würden sich mit der Liebe beeilen, um die tiefe Trauer in ihren Herzen zu löschen. Sie würden stolz und tapfer sein in allem, was sie angeht, aber vor Angst um den anderen zittern; sie würden zärtlich zueinander sein, ohne sich dessen zu schämen, anders als jetzt, und einander liebkosen wie Kinder. Sie würden, wenn sie sich begegnen, einen tiefen und gedankenvollen Blick einander schenken, Blicke voller Liebe und Trauer …
    Mein Lieber«, unterbrach er sich plötzlich lächelnd, »das alles ist eine Phantasie, eine völlig unwahrscheinliche sogar; aber ich habe sie mir viel zu oft vergegenwärtigt, denn ich konnte mein Leben lang nicht darauf verzichten und auch nicht aufhören, daran zu denken. Ich spreche nicht von meinem Glauben: Mein Glaube ist nicht besonders stark, ich bin Deist, philosophischer Deist, wie unser ganzes Tausend, ich nehme es jedenfalls an, aber … aber es ist bemerkenswert, daß ich mein Tableau immer mit einer Vision abschloß, wie Heine in › Christus auf dem Baltischen Meer ‹. Ich konnte ohne Ihn nicht auskommen und mußte Ihn schließlich inmitten der verwaisten Menschen sehen. Er kam zu ihnen, streckte ihnen die Arme entgegen und sagte: ›Wie konntet ihr Mich vergessen?‹ Und da fiel der Schleier von aller Augen, und es erklang die große, begeisterte Hymne der neuen und letzten Auferstehung …
    Lassen wir das, mein Freund; und meine ›Büßerketten‹ sind reinster Unsinn; mache dir ihretwegen keine Gedanken. Und noch etwas: Du weißt, daß meine Zunge zurückhaltend und nüchtern ist; wenn ich jetzt ins Reden gekommen bin, so kommt das von … von allen möglichen Gefühlen, und weil du es bist; vor niemand anderem würde ich das jemals unter irgendwelchen Umständen aussprechen. Dies nur, um dich zu beruhigen.«
    Ich aber war so gerührt; von der Lüge, die ich befürchtet hatte, war nichts zu bemerken, und ich freute mich besonders, daß es mir nun klar war, er habe sich wirklich gesehnt und gelitten und er habe wirklich und zweifellos viel geliebt – und das war mir das Wertvollste. Ich war ganz davon erfüllt, als ich es ihm sagte.
    »Aber wissen Sie«, fügte

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