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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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lächerlich, launisch und kalt, kurz gesagt einfach dumm, und zwar nicht nur im praktischen Leben, sondern schließlich sogar in seinen Theorien. Auf diese Weise würde die Verpflichtung, sich der Praxis zuzuwenden und wenigstens ein einziges lebendes Wesen glücklich zu machen, sich als wohltuend und erquickend auch für den Wohltäter erweisen. Als Theorie klingt es sehr komisch, aber wenn es in die Praxis umgesetzt und zur Gewohnheit würde, wäre es keineswegs dumm. Ich habe es an mir selbst erfahren: Kaum hatte ich begonnen, diese Idee von einem neuen Gebot zu entwickeln – anfangs, versteht sich, nur im Scherz –, als mir plötzlich das ganze Ausmaß der in mir verborgenen Liebe zu deiner Mutter bewußt wurde. Bis dahin war es mir nicht bewußt gewesen, daß ich sie liebte. Solange ich mit ihr lebte, hatte ich meine Lust an ihr, aber nur, solange sie schön war, dann aber wurde ich launisch. Erst in Deutschland habe ich begriffen, daß ich sie liebte. Angefangen hatte es mit ihren eingefallenen Wangen, an die ich mich niemals ohne einen Stich im Herzen erinnern konnte, mitunter sogar, wenn ich sie nur ansah – ohne einen buchstäblichen, echten, physischen Schmerz. Es gibt schmerzhafte Erinnerungen, mein Lieber, die einen physischen Schmerz verursachen; fast jeder Mensch kennt sie, man vergißt sie nur oft; es kommt aber vor, daß sie sich später wieder in Erinnerung bringen, bloß durch einen winzigen Zug, aber sie weichen nie mehr. Dann erinnerte ich mich an Tausende von Einzelheiten meines Lebens mit Sonja; am Ende tauchten sie von selbst auf, fielen in Massen über mich her und peinigten mich beinahe zu Tode, solange ich auf sie wartete. Am schlimmsten peinigte mich die Erinnerung an ihr ewiges Unterwerfen mir gegenüber und der Umstand, daß sie sich ewig und in jeder Beziehung für unermeßlich minderwertiger hielt als mich – stell dir vor, sogar in physischer. Sie schämte sich und wurde flammend rot, wenn ich gelegentlich ihre Hände und Finger ansah, die nicht gerade aristokratisch sind. Es waren nicht nur die Finger, deren sie sich schämte, sie schämte sich alles dessen, was zu ihr gehörte, obwohl ich ihre Schönheit liebte. Sie war auch sonst verlegen bis zur Scheu, aber das Schlimme war, daß in dieser Scheu stets so etwas wie Schrecken mitschwang. Mit einem Wort, sie hielt sich vor mir für irgend etwas Nichtswürdiges und sogar Ungehöriges. Wirklich, manchmal, am Anfang, habe ich schon gedacht, sie hielte mich immer noch für ihren Herrn und fürchte mich, aber es war etwas ganz anderes. Indessen ist sie, das kann ich beschwören, besser als irgend jemand auf der Welt imstande, meine Schwächen zu durchschauen, und überhaupt bin ich mein Lebtag keiner zweiten Frau mit einem so feinfühligen und hellhörigen Herzen begegnet. Oh, wie war sie unglücklich, als sie noch wunderschön war, wenn ich verlangt habe, sie müsse sich herausputzen. Das war Selbstbewußtsein und auch verletztes Gefühl: Sie wußte, daß sie niemals eine Gnädige sein und daß sie in einer fremden Kostümierung nur lächerlich aussehen würde. Als Frau wollte sie auf keinen Fall durch ihre Kleidung lächerlich wirken und begriff, daß jede Frau ihre Kleidung tragen muß, eine Einsicht, die Tausenden und Abertausenden Frauen verschlossen bleibt – nur, weil sie nach der Mode gekleidet sein wollen. Meinen spöttischen Blick fürchtete sie – das war es! Aber besonders traurig war mir die Erinnerung an ihre tiefverwunderten Blicke, die ich während unserer ganzen gemeinsamen Zeit oft auf mich gerichtet sah: Darin lag das vollkommene Verständnis ihres eigenen Schicksals und der auf sie wartenden Zukunft, so daß ich unter diesen Blicken selbst schwermütig wurde, obwohl ich mich, zugegeben, damals auf irgendwelche Gespräche nicht einließ und all das irgendwie von oben herab behandelte. Und, weißt du, sie war doch nicht immer so schreckhaft und scheu wie jetzt; und auch heute noch kommt es vor, daß sie plötzlich heiter und hübsch wird wie eine Zwanzigjährige. Damals aber, in ihren jungen Jahren, hat sie manchmal sehr gern ein Schwätzchen gehalten und gelacht, natürlich mit ihresgleichen – mit jungen Mädchen aus dem Gesinde und den Alten, die im Hause das Gnadenbrot aßen; und wie fuhr sie zusammen, wenn ich sie hin und wieder beim Lachen überraschte, wie schnell errötete sie, und wie scheu sah sie mich an! Einmal, es war kurz vor meinem Aufbruch ins Ausland, das heißt, am Vorabend des Tages, an

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