Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Andrej Petrowitsch rechnen? Das erschreckt mich …«
»Halt den Mund, was macht das schon, daß du erschrickst! Sprich: Was hast du vorhin verschwiegen, als du von dem gestrigen Possenspiel erzählt hast?«
Ich hielt es nicht für nötig, etwas zu verbergen, und erzählte, fast gereizt, alles über den gestrigen Brief Katerina Nikolajewnas an Werssilow, über den Effekt, den dieser Brief auf ihn gemacht hatte, und über seine Auferstehung zu einem neuen Leben. Zu meinem Erstaunen überraschte sie die Tatsache dieses Briefes nicht im mindesten, und daraus schloß ich, daß sie davon bereits unterrichtet sein mußte.
»Du schwindelst doch?«
»Nein, ich schwindle nicht.«
»Sieh mal an«, lächelte sie giftig, offensichtlich abwägend, »auferstanden ist er! Bei ihm ist auch so was möglich! Ist es wahr, daß er das Porträt geküßt hat?«
»Das ist wahr, Tatjana Pawlowna.«
»Hat er mit Gefühl geküßt oder nur so?«
»Nur so? Hat er denn je etwas ›nur so‹ getan? Schämen Sie sich, Tatjana Pawlowna; Sie haben eine grobe, eine Frauenseele!«
Ich sagte das mit dem Eifer der Überzeugung, aber sie schien es zu überhören: Sie schien abermals zu kombinieren, ungeachtet der strengen Kälte im Treppenhaus. Ich war ja im Pelz und sie bloß im Kleid.
»Ich hätte einen Auftrag für dich, schade, daß du so dumm bist«, sagte sie verächtlich und gleichsam ärgerlich. »Geh mal zu Anna Andrejewna und guck dich um, was bei ihr los ist … Ach nein, geh doch nicht; ein Dummkopf bleibt immer Dummkopf! Und jetzt mach, daß du wegkommst, was stehst du hier herum?«
»Und ich gehe nicht zu Anna Andrejewna! Anna Andrejewna hat schon von selbst nach mir geschickt.«
»Sie selbst? Nastassja Jegorowna?« Sie drehte sich rasch nach mir um: Sie war schon im Begriff zu gehen und hatte sogar die Tür schon geöffnet, zog sie aber nun wieder zu.
»Ich gehe um keinen Preis zu Anna Andrejewna«, wiederholte ich mit boshafter Lust, »und ich gehe nicht, weil Sie mich gerade einen Dummkopf genannt haben, während ich doch noch nie so scharfsinnig war wie heute. Ihr ganzes Treiben sehe ich vor mir, wie auf der flachen Hand; aber zu Anna Andrejewna gehe ich trotzdem nicht!«
»Genau so habe ich’s mir gedacht!« rief sie aus, aber wiederum nicht als Antwort, sondern etwas Eigenes weiterverfolgend. »Nun legt man ihr endgültig die Schlinge um den Hals und zieht sie zu!«
»Anna Andrejewna?«
»Esel!«
»Wen meinen Sie denn? Doch nicht etwa Katerina Nikolajewna? Was für eine Schlinge?« Ich war furchtbar erschrocken. Eine dunkle, aber furchtbare Idee zog durch meine Seele. Tatjana sah mich durchdringend an.
»Was hast du denn damit zu tun?« fragte sie plötzlich. »Woran bist denn du beteiligt? Mir ist übrigens auch etwas über dich zu Ohren gekommen, paß nur auf!«
»Hören Sie, Tatjana Pawlowna: Ich werde Ihnen ein furchtbares Geheimnis anvertrauen, aber nicht jetzt, jetzt ist nicht die Zeit dazu, sondern morgen, unter vier Augen, aber dafür müssen Sie mir jetzt die ganze Wahrheit sagen, auch über diese Schlinge … weil ich schon zittere von Kopf bis Fuß …«
»Was kümmert mich dein Zittern!« rief sie aus. »Was für ein Geheimnis willst du mir morgen anvertrauen? Solltest du wirklich etwas wissen?« Ihr fragender Blick drang förmlich in mich ein. »Du hast ihr doch damals geschworen, daß du den Brief von Kraft verbrannt hast?«
»Tatjana Pawlowna, ich wiederhole, quälen Sie mich nicht!« stammelte ich außer mir, ohne meinerseits auf ihre Frage zu antworten. »Sehen Sie, Tatjana Pawlowna, dadurch, daß Sie vor mir etwas verheimlichen, kann etwas noch viel Schlimmeres geschehen … ist ihm doch gestern eine wahre, die wahrste Auferstehung zuteil geworden.«
»Ach, mach, daß du fortkommst, Narr! Bist doch auch verliebt wie ein Spatz! Vater und Sohn in denselben Gegenstand! Pfui, ihr Unholde!«
Sie verschwand entrüstet hinter der zugeschlagenen Tür. Ich stürzte tief gekränkt davon, rasend über den dreisten, schamlosen Zynismus ihrer letzten Worte – einen Zynismus, dessen nur ein Weib fähig ist. Aber ich verzichte auf die Beschreibung meiner verworrenen Empfindungen, weil ich mir selbst das Wort darauf gegeben habe; ich werde künftig nur bei den Tatsachen bleiben, weil diese jetzt allein entscheidend sind. Selbstverständlich habe ich im Vorbeigehen bei ihm vorbeigeschaut, um wiederum von der Amme zu hören, er sei immer noch nicht dagewesen.
»Kommt er überhaupt nicht mehr?«
»Der
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