Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
hinausgeleitet (der Wirt war noch nicht vom Dienst zurück). Als er draußen war, fiel ich sofort über sie her:
»Was tat er hier? War er in meinem Zimmer?«
»Überhaupt nicht in Ihrem Zimmer. Er hat nur mich aufgesucht«, antwortete sie rasch und trocken und drehte sich um, um in ihre Zimmer zu gehen.
»Nein, das geht nicht!« rief ich. »Antworten Sie gefälligst: Was wollte er hier?«
»Ach, du lieber Gott! Muß man Ihnen denn immer erzählen, weshalb die Menschen herkommen? Wir dürfen doch wohl unsere eigenen Interessen haben. Der junge Herr hat vielleicht vor, Geld aufzunehmen, und wollte von mir eine Adresse erfahren. Vielleicht habe ich sie ihm schon das letzte Mal versprochen …«
»Wann war denn dieses letzte Mal?«
»Lieber Gott! Der ist doch nicht zum ersten Mal hier!«
Sie ging. Der Ton hatte sich hier offensichtlich geändert, das war die Hauptsache: Sie schlugen mir gegenüber einen unfreundlichen Ton an. Es war klar, daß es sich wieder um ein Geheimnis handelte; die Geheimnisse häuften sich von Schritt zu Schritt, von Stunde zu Stunde. Das erste Mal war der junge Werssilow mit seiner Schwester erschienen, mit Anna Andrejewna, als ich krank war: Daran erinnerte ich mich sehr deutlich, zugleich auch daran, daß Anna Andrejewna gestern vor mir ein erstaunliches Wörtchen hatte fallenlassen, nämlich, daß der alte Fürst vielleicht in meiner Wohnung absteigen würde … aber das alles war so abwegig und so grotesk, daß mir dazu gar nichts eingefallen war. Ich schlug mich vor den Kopf und eilte, ohne mir auch nur eine kleine Erholungspause zu gönnen, zu Anna Andrejewna: Sie war nicht zu Hause, und vom Portier erhielt ich die Antwort: »Sie sind nach Zarskoje gefahren und werden nicht vor morgen um dieselbe Zeit zurück sein.«
»Sie ist nach Zarskoje, selbstverständlich zum alten Fürsten, und der Bruder inspiziert meine Wohnung! Nein, das darf nicht sein!« Ich knirschte förmlich mit den Zähnen. »Und wenn es da in der Tat um eine Schlinge geht, so werde ich die ›arme Frau‹ verteidigen!«
Von Anna Andrejewna begab ich mich nicht wieder nach Hause, weil in meinem entzündeten Kopf plötzlich die Erinnerung an das Lokal am Kanal auftauchte, das Andrej Petrowitsch in manch einer düsteren Stunde aufzusuchen pflegte. Voll Freude über den Einfall lief ich spornstreichs dorthin; drei Uhr war schon vorbei, und es begann zu dämmern. In dem Lokal beschied man mir, er sei dagewesen: »Sie sind eine Zeitlang geblieben und wieder gegangen, und es kann gut sein, sie kommen wieder.« Plötzlich beschloß ich, hier auf ihn zu warten, und bestellte ein Mittagessen; wenigstens ein Hoffnungsschimmer.
Ich verzehrte das Mittagessen, ich verzehrte sogar zuviel, nur um das Recht zu haben, möglichst lange zu bleiben, und verbrachte so, glaube ich, vier volle Stunden. Ich beschreibe weder meine Trauer noch meine fieberhafte Ungeduld; mein ganzes Inneres bebte und zitterte. Diese Drehorgel, diese Besucher – oh, dieser ganze Trübsinn hat sich meiner Seele eingeprägt, vielleicht für das ganze Leben! Ich beschreibe ebensowenig die Gedanken, die in meinem Kopf aufwirbelten, gleich einer Wolke trockenen Laubes im Herbst bei Sturm; in der Tat, es war etwas Ähnliches, und ich gestehe, daß ich die Empfindung hatte, mein Verstand versage mir gelegentlich den Dienst.
Aber es gab eine Pein, die die Schmerzgrenze erreichte (en passant, selbstverständlich, neben der Marter) – eine nicht zu vertreibende giftige Impression –, unabweisbar wie eine nicht zu vertreibende giftige Herbstfliege, die man nicht beachtet, die einen aber ständig umkreist, stört und plötzlich äußerst schmerzhaft zusticht. Es war nur eine Erinnerung, nur ein Vorfall, von dem ich noch keinem einzigen Menschen auf der Welt erzählt habe. Hier folgt sie, denn auch sie muß unbedingt irgendwo erzählt werden.
IV
Als in Moskau der Entschluß schon feststand, daß ich nach Petersburg gehen sollte, ließ man mich durch Nikolaj Semjonowitsch wissen, ich müsse das Geld für die Abreise abwarten. Von wem das Geld kommen würde – danach fragte ich nicht; ich wußte, daß es Werssilow war, und da ich Tag und Nacht mit stockendem Herzen und hochfliegenden Plänen die Begegnung mit Werssilow herbeiträumte, hatte ich völlig aufgehört, über ihn zu sprechen, mit wem auch immer, Marja Iwanowna nicht ausgenommen. Ich möchte übrigens daran erinnern, daß ich auch eigenes Geld für die Abreise besaß; aber dennoch beschloß ich zu
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