Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
weniger auf als gestern. Erstens hoffte ich auf eine Aussprache mit ihm, zweitens fand ich nichts mehr dabei, daß Lambert sich bis zu ihm vorgearbeitet und sich mit ihm, worüber auch immer, unterhalten hatte. Aber meine größte Freude war eine außerordentliche Empfindung: Der Gedanke, daß er sie »nicht mehr liebe«; daran glaubte ich inbrünstig und hatte das Gefühl, als habe mir jemand einen furchtbaren Stein vom Herzen genommen. Ich erinnere mich sogar noch an eine Mutmaßung, die mir damals durch den Kopf ging: Gerade die Ungestaltheit und Sinnlosigkeit seines letzten Wutausbruchs bei der Neuigkeit über Bjoring und der damalige beleidigende Brief, gerade sein extremes Verhalten hätten als Anzeichen und Ankündigung des radikalsten Wandels seines Gemüts und einer baldigen Rückkehr zum gesunden Menschenverstand gedeutet werden können; es muß ihm fast wie bei einer Krankheit ergangen sein, in deren Verlauf er gerade den kritischen Punkt zu gewinnen hatte – eine medizinische Episode und nicht mehr! Dieser Gedanke machte mich glücklich.
»Und mag sie, mag sie ihr Schicksal nach ihrem Willen bestimmen, mag sie ihren Bjoring heiraten, soviel sie will, er aber, mein Vater, mein Freund, soll sie nicht länger lieben«, rief ich aus. Übrigens gab es da ein gewisses Geheimnis meiner eigenen Gefühle, über die ich hier, in meinen Aufzeichnungen, mich nicht zu verbreiten wünsche.
Und damit genug. Jetzt also werde ich den ganzen folgenden Horror und die ganze Machination der Fakten ohne alles Räsonieren wiedergeben.
II
Um zehn Uhr, ich war gerade im Begriff, das Haus zu verlassen – zu ihm, versteht sich –, erschien Nastassja Jegorowna. Ich fragte sie voll Freude: »Sie kommen doch von ihm?« und hörte zu meinem Ärger, sie komme keineswegs von ihm, sondern von Anna Andrejewna und habe »die Wohnung schon in aller Frühe verlassen«.
»Welche Wohnung?«
»Dieselbe, die von gestern. Die gestrige Wohnung, fürs Kind, ist jetzt auf meinen Namen gemietet, auf Kosten von Tatjana Pawlowna …«
»Ach was, das ist mir schnuppe!« unterbrach ich sie unwirsch. »Aber er ist doch zu Hause? Werde ich ihn antreffen?«
Zu meinem Erstaunen mußte ich hören, daß er noch vor ihr das Haus verlassen hätte; das bedeutete, sie – »in aller Frühe«, und er – noch früher.
»Er muß also jetzt zurück sein?«
»Nein, wenn’s beliebt. Er ist bestimmt noch nicht zurück. Vielleicht wird er gar nicht zurückkommen«, sagte sie mit demselben scharfen und lauernden Blick, den sie ebenso unablässig auf mich richtete wie damals, bei dem bereits beschriebenen Besuch, als ich krank das Bett hütete. Ich war vor allem deshalb empört, weil hier wiederum von irgendwelchen Geheimnissen und Torheiten die Rede war und weil diese Menschen offenkundig ohne Geheimnisse und Ränke nicht auskommen konnten.
»Warum sagen Sie: Vielleicht wird er gar nicht zurückkommen? Wie meinen Sie das? Er ist zu Mama gegangen – das ist alles!«
»W-w-eiß ich nicht, wenn’s beliebt.«
»Und was führt Sie selbst zu mir?«
Sie erklärte, sie käme direkt von Anna Andrejewna, die mich zu sich bitte und mich unbedingt sofort erwarte, weil es sonst »zu spät sein kann«. Dieser wiederum rätselhafte Ausdruck brachte mich vollends aus der Fassung.
»Wieso zu spät? Ich will nicht gehen, und ich werde nicht gehen! Ich lasse mich nicht wieder zur Marionette machen! Ich spucke auf Lambert – sagen Sie ihr das, und wenn sie ihren Lambert zu mir schickt, werde ich ihm einen Tritt geben – das müssen Sie ihr wortwörtlich ausrichten!«
Nastassja Jegorowna erschrak fürchterlich.
»Ach nein, wenn’s beliebt«, sie machte einen Schritt auf mich zu und faltete die Hände, wie um mich anzuflehen, »Sie müssen sich Zeit nehmen und nicht so voreilig sein. Die Sache ist wichtig, wichtig für Sie selbst und für Anna Andrejewna auch, und für Andrej Petrowitsch, und für Ihre Frau Mama und für alle … Sie sollten Anna Andrejewna sogleich aufsuchen, weil sie unmöglich länger warten können. Ich schwör’s … und dann entscheiden.«
Ich sah sie erstaunt und angewidert an.
»Quatsch, nichts wird zu spät sein, und ich komme nicht!« schrie ich hartnäckig und schadenfroh. »Jetzt ist alles anders und neu! Kapieren Sie denn das nicht? Leben Sie wohl, Nastassja Jegorowna. Ich werde absichtlich nicht hingehen, ich werde Sie absichtlich nicht ausfragen. Sie machen mich nur verrückt. Ich will von Ihren Rätseln gar nichts
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