Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Herrgott mag’s wissen.«
III
Bei den Tatsachen bleiben, bei den Tatsachen bleiben! … Aber kann der Leser überhaupt folgen? Ich weiß noch, wie mich damals gerade diese Tatsachen überwältigten und mich nicht zum Nachdenken kommen ließen, dergestalt, daß gegen Ende des Tages mir alles im Kopf rund ging. Deshalb will ich mit zwei, drei Worten einiges vorwegnehmen.
Meine schlimmsten Qualen bestanden in folgendem: Sollte er gestern auferstanden sein und seine Liebe zu ihr überwunden haben, wo müßte er in diesem Fall heute sein? Antwort: Vor allem – bei mir, den er gestern umarmt hatte und gleich darauf bei Mama, deren Porträt er gestern geküßt hatte. Und nun statt dieser beiden naturgemäßen Schritte, ist er plötzlich, »in aller Frühe«, verschwunden, und Nastassja Jegorowna phantasiert aus irgendeinem Grunde, daß er »kaum zurückkehren« werde. Nicht genug damit: Lisa spricht von einer Lösung der »ewigen Geschichte« und glaubt, Mama habe gewisse Nachrichten über ihn erhalten, und zwar die allerneuesten; darüber hinaus sind sie zweifellos auch über den Brief Katerina Nikolajewnas unterrichtet (das habe ich selbst gemerkt) und zweifeln dennoch an seiner »Auferstehung zu einem neuen Leben«, auch, nachdem sie mir aufmerksam zugehört hatten. Mama ist todtraurig, und Tatjana Pawlowna macht beim Wort »Auferstehung« ihre giftigen Witze. Aber wenn all das zutrifft, so bedeutet es eine weitere Wandlung in der Nacht, eine weitere Krise – und das nach der gestrigen Begeisterung, der Ergriffenheit und dem Pathos! So bedeutet es, daß die »Auferstehung« geplatzt ist wie ein aufgeblasener Luftballon und daß er vielleicht heute abermals irgendwo tobt wie damals bei der Nachricht über Bjoring! Es fragt sich, was nun mit Mama, mit mir, mit uns allen und … und schließlich auch mit ihr werden soll? Welche »Schlinge« hat Tatjana gemeint, als sie mich zu Anna Andrejewna schicken wollte? Es bedeutet, daß jene »Schlinge« bei Anna Andrejewna zu suchen ist. Warum gerade bei Anna Andrejewna? Selbstverständlich wollte ich zu Anna Andrejewna eilen; ich hatte mich vorher absichtlich geweigert, aus Ärger. Ich machte mich jetzt sofort auf den Weg. Aber was hatte Tatjana über das »Dokument« gesagt? Und hat nicht auch er mir gestern gesagt: »Verbrenne das Dokument«?
Das war es, was auch mich wie eine Schlinge zu erwürgen drohte; aber das wichtigste war, daß ich ihn brauchte. Mit ihm hätte ich sofort alles entschieden – das fühlte ich; wir würden einander nach ein paar Worten verstehen! Ich würde ihn bei den Händen packen und sie drücken; ich würde in meinem Herzen glühende Worte finden – dieser Traum überwältigte mich. Oh, ich würde die Raserei zähmen! … Aber wo ist er? Wo ist er? Und ausgerechnet in dieser Minute, als ich so erhitzt war, mußte Lambert mir über den Weg laufen! Wenige Schritte vor meinem Haus stieß ich plötzlich mit Lambert zusammen! Er schrie bei meinem Anblick freudig auf und packte mich bei der Hand:
»Ich bin schon das dritte Mal hier … Enfin, wir wollen zusammen frühstücken!«
»Halt! Du warst bei mir? Ist Andrej Petrowitsch dort?«
»Niemand ist dort. Laß sie doch alle, wo sie sind! Du bist ein Esel, weil du dich gestern geärgert hast; du warst besoffen, und ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen; ich habe heute charmante Neuigkeiten gehört, wovon wir gestern sprachen …«
»Lambert!« fiel ich ihm ins Wort, atemlos mich überstürzend und unwillkürlich ein wenig pathetisch, »ich bin ja nur deshalb mit dir stehengeblieben, um mit dir für alle Zeiten Schluß zu machen. Ich habe dir schon gestern gesagt, daß du überhaupt nichts verstehst. Lambert, du bist kindisch und dumm wie ein Franzose. Du glaubst immer noch, daß du derselbe bist wie bei Touchard und daß ich auch ebenso blöd bin wie bei Touchard … Aber ich bin nicht mehr so blöd wie bei Touchard … Ich war gestern betrunken, aber es lag nicht am Wein, sondern daran, daß ich ohnehin erregt war; und wenn ich auf dein Gewäsch einging, so nur aus List, um dich auszuhorchen. Ich habe dir etwas vorgemacht, du hast dich darüber gefreut und mir geglaubt und hast geplappert. Du mußt wissen: Der Vorschlag, sie zu heiraten, ist ein solcher Schwachsinn, auf den nicht einmal ein Gymnasiast aus der Vorklasse hereinfallen würde. Wie kann man überhaupt auf die Idee kommen, ich könnte ihn ernst nehmen? Du aber hast es geglaubt. Und du hast es deshalb geglaubt, weil du in der
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